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»Gendern, bis das Blut spritzt«

Vor Gehirnwäsche wird gewarnt: Ein samstäglicher Ausflug zum Literaturfest in Meißen

  • Benjamin Beutler
  • Lesedauer: 5 Min.
Achtung, es geht bergab: Das schöne Meißen, mitunter in Alarmstimmung.
Achtung, es geht bergab: Das schöne Meißen, mitunter in Alarmstimmung.

Nichts ist für einen Berliner einfacher als ein Tagesausflug nach Meißen. Drei Stunden geht es im Regionalexpress durch frühsommerliche Felder voller Klatschmohn und Kornblumen. Vorbei an aufgegebenen Bahnhöfen, aus deren offenen Fenstern mal eine alte Gardeko-Gardine weht, mal ein Dynamo-Dresden-Graffiti an der Ruinenmauer die Fahrtrichtung ins sächsische Elbtal verrät. Am Wochenende öffnete die Porzellanstadt wieder ihre Plätze und Säle für das Literaturfest Meißen, bei dem von Donnerstag bis Sonntag 130 Autoren und Vorleser auftraten, darunter auch bekannte Leute wie Ingo Schulze und Clemens Meyer.

Man ist stolz, »Deutschlands größtes eintrittsfreies Lesefest« zu veranstalten. Für die Stadt ohne Zweifel das Kulturereignis des Jahres. Und auch eine demokratische Veranstaltung einer liberalen Stadtgesellschaft, die in Sachsen, wo die AfD bei der letzten Landtagswahl mit 27,5 Prozent die zweitstärkste Partei wurde, für Toleranz und Selbstreflexion wirbt. Doch anscheinend müssen da auch Konzessionen für ein rechtes Publikum gemacht werden. So gab es im Vorfeld Auseinandersetzungen über die Absicht des ehemaligen CDU-Lokalpolitikers Reinhard Plüschke, aus »Das Imperium USA«, dem neuen Buch des Schweizer Verschwörungstheoretikers Daniele Ganser, vorlesen zu wollen. Durfte er dann auch am Donnerstag, allerdings versehen mit einer kritischen Einordnung der Ganser-Thesen durch Daniel Bahrmann, Vorsitzender des Veranstalters Meißener Kulturverein. Anhören wollten sich das dann nur rund 30 Leute. Mehr waren es am Samstagmittag, als der Leipziger Liedermacher und Autor Dieter Kalka auftrat, um aus seinem Buch »Negerküsse in Zigeunersoße« vorzutragen.

Es ist Punkt 12, die Glocken der Frauenkirche schlagen und die Stuhlreihen auf dem Marktplatz beginnen sich zu füllen. Der Moderator, der MDR-Literaturjournalist Michael Hametner, greift zum Mikrofon und eröffnet die Hauptbühne und kündigt Dieter Kalka an. Hamneter kennt die Debatten um Rassismus in der Sprache, »da werden einige zucken, das wurde uns schon so anerzogen«, sagt er, doch »in der Polemik darf man viel«.

Fast 100 Leute sind gekommen. Die Sonne brennt, zwei, drei Schirme spenden Schatten, die meisten Zuhörer im Rentenalter, weiße Haare, Karo-Hemden, Sandalen mit Socken, viele Hüte. Kalka ist Leipziger, Jahrgang 1957. Zu DDR-Zeiten zog er als Liedermacher durch die alternative Musikszene, heute arbeitet er auch als Logopäde. Bevor er beginnt, noch ein Blick ins Programmheft: In seinem als »Streitschrift« bezeichneten Buch befasse er sich mit dem »Sinn und Unsinn neuer Sprachregelungen und Sprechweis*innen«. Stutzig macht die Buchankündigung des Kleinstverlags im Internet. Noch vor einem Jahr hätten der Autor und sein Illustrator Werner Bernreuther »nicht gedacht, dass sie irgendwann einmal in die Situation kämen, ihre Muttersprache verteidigen zu müssen«. Und weiter raunt es: »Als wäre jetzt, nachdem die Deutschen siebzig Jahre lang tüchtig bereut haben, ihre Sprache an der Reihe.«

Auf der Bühne nimmt der stämmige Mann seine Gitarre und fängt zu singen an: »Drei Zigeuner«. Eine gezielte Provokation. Den Leuten gefällt es. Das Z-Wort wolle er sich nicht nehmen lassen von der »Sprachpolizei«. Was man wissen muss: Das Lied ist vom spätromantischen Dichter Nikolaus Lenau. Der Österreicher gilt als intellektueller Begründer des deutschen Antiamerikanismus, nach einer USA-Reise popularisierte er die vermeintliche Kulturlosigkeit und »schweinische« Gier der Amerikaner nach Geld und Profit. Lenau verfasste auch das antisemitische Gedicht »Ahasver, der ewige Jude«.

Bei Kalka sind es die »handverlesenen Elitären«, die »studierten Germanisten« und die »Sieger« der Geschichte, die hierzulande einen perfiden Plan vorantreiben würden, fabuliert er im Buch, immer haarscharf an der Grenze zur Volksverhetzung. Auf dem Cover seines Buchs prangt die Illustration einer Deutschland-schafft-sich-ab-Dystopie: Ein Schachbrett, auf dem sich zwei bedrohliche Wechselbälger umschlingen: eine männliche Figur mit Krone, aber ohne Beine, getragen von einer schwarzen Frau, die eine Maske mit einem weißen Gesicht trägt. Im Hintergrund steht eine Schachfigur mit jüdischem Davidstern, weiter vorne eine zweite mit muslimischem Halbmond. Kalka bezeichnet sich als Linkswähler, doch seine Äußerungen passen gut zu neurechten AfD-Kampagnen gegen Gender-Gaga, Schlussstrich-Debatte und der kruden Theorie vom Bevölkerungsaustausch.

In seinem Büchlein wird gleich im ersten Kapitel »unser paragraphenversessenes Gemeinwesen« gegeißelt, »das gern über den Sinn von Regeln hinausschießt wie mit Euthanasie, Abstammungslehre und Rassenhygiene«. Äh, wie bitte? Deutschland würde so komisch »vor der Weltgemeinschaft dastehen, die rätselt, ob man diese Nation im Ganzen weiterbestehen lassen oder besser die männlichen Mitglieder kastrieren sollte, wie es die Amerikaner als Siegermacht vorschlugen«. Dass die USA angeblich das deutsche Volk sterilisieren lassen wollten, war eine NS-Propagandalüge im Zweiten Weltkrieg. »Die Kastration des Männlichen«, spinnt Kalka diesen Unsinn weiter, »erfolgt nun gut 70 Jahre später – von innen –, und wir sind mittendrin, indem man das generische Maskulinum abschafft und mit dem Femininum ersetzt.«

Auch Winston Churchill, schiebt er einen weiteren Nazi-Bezwinger nach, habe angeblich gesagt: Wenn du die Deutschen kleinhalten willst, nimm ihnen die Sprache! Die Sprache nehmen? Gemeint ist »Gendern, bis das Blut spritzt« – das Kalka auf der Bühne mit deutschem »G« ausspricht, »weil das eine deutsche Veranstaltung ist« –das sei ein »öffentlicher Aufmarsch«. Jedes falsche Wort würde von der »staatlichen Willkür«, den »GEZ-Umerziehungsmedien als fünfte Macht« und den »Lifestyle-Linken« bestraft und ans Licht gebracht, »in den letzten Diktaturen geschah das geheim – als Spitzeldienst. Jetzt ist es öffentlich«. Als Beispiel für den Niedergang der Sprache nennt er das »Halbdeutsch von Zuwanderern: Haben fertig. Schlagen dich Krankenhaus!«. Und dazu kommt auch noch die »Mode« LGBTQ. Frauen, die in WGs wohnen, würden lesbisch. Das Ziel dieser »Gehirnwäsche« sei: »Geschlechtslosigkeit. Die absolute Herrschaft.« Tja, so lebt es sich in einer »Diktatur«, gemacht von den »Siegern«. Und die kommen immer aus dem Westen.

Würden die Deutschen jedenfalls nicht zur Besinnung kommen, so lautet Kalkas Diagnose, dann geht es ihnen wie den »Indianern« und den kolonisierten Völkern Afrikas, die von Engländern, Spaniern und US-Amerikanern ausgerottet worden seien. In Sachsen herrscht weiterhin Alarmstimmung. Der Moderator lobt die »raffinierte Sprache« von Kalka und diagnostiziert eine »Zeit der Hysterie«. Dann gibt er eine Anekdote über ein gegendertes Straßenschild in Berlin zum Besten, statt Hirsche habe man Hirschkühe verwendet. Das Publikum klatscht entzückt. Nur: das war ein Aprilscherz vom »Tagesspiegel«.

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