Den Hebel nach Grün umlegen

Der Green Deal der Europäischen Kommission kann der Klimawende in der Hauptstadt auf die Sprünge helfen

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 7 Min.

Es sind 570 000 Tonnen Hausmüll, die jährlich im Müllheizkraftwerk der Berliner Stadtreinigung (BSR) in Ruhleben verbrannt werden. Eine kaum vorstellbare Menge und nur ein kleiner Teil dessen, was die BSR insgesamt jedes Jahr aufs Neue in der knapp Vier-Millionen-Einwohner*innen-Metropole abfährt, einsammelt, aufkehrt. Vom Prinzip Zero Waste – »Null Verschwendung« – ist man mit solchen Zahlen weit entfernt und angesichts von Energieknappheit und Klimawandel nicht gerade unter den Musterschülern.

»Zero Waste bedeutet weniger Geld für die Abfallwirtschaft, dabei muss es andersherum sein«, kritisiert Andreas Thürmer, Leiter des Vorstandsbüros der BSR. Geht es nach Leuten wie Thürmer, kann der Umbau der Abfallwirtschaft zu einem zukunftsfähigen Unternehmen der Hauptstadt gelingen. Mit Zeit und mit Geld. Letzteres soll nun aus dem European Green Deal kommen: Für allein 1,5 Millionen Euro aus dem Europäischen Grünen Abkommen soll Berlin eine neue Abfallwirtschaft erhalten, mit Elektro-Kehrautos, wasserstoffbetriebenen Nutzfahrzeugen, dem Ausbau der Biomüll-Verwertung und vor allem einer eigenen Agentur für Kreislaufwirtschaft.

Wer vom European Green Deal, dem Europäischen Grünen Abkommen, in Berlin bisher noch nichts gehört hat, muss sich nicht wundern. Es war schließlich Ende Dezember, also kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie, als die Europäische Kommission eine politische Selbstverpflichtung verabschiedete, mit der sie nicht weniger proklamiert, als dass Europa der erste klimaneutrale Kontinent werde – und das in weniger als 30 Jahren.

Der Green Deal soll die EU bis zum Jahr 2050 zum ersten treibhausgasneutralen Staatenbund machen, die Schadstoffemissionen deutlich reduzieren und die Kreislaufwirtschaft in Europa weiter fördern. Seit 2021 ist das Gesetz in Kraft.

Im Berliner Abgeordnetenhaus fragten sich die Mitglieder des Umweltausschusses am vergangenen Donnerstag: Was bedeutet dieses Programm für das Bundesland und die Großstadt Berlin, in der bereits seit Jahren um Fortschritte bei Energieversorgung, Gebäudesanierung und Mobilitätswende gerungen wird – bei gleichzeitiger massiver Vergrößerung der Anzahl der Kraftfahrzeuge (100 000 in zehn Jahren) sowie schier endlosen Investitionsprojekten im Luxusbereich, deren Nachhaltigkeit in Bau- und Nutzweise getrost bezweifelt werden darf.

»Wo gibt es besonders große Hebelwirkung für die CO2-Reduzierung?«, will beispielsweise Benedikt Lux, umweltpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, wissen. Die CDU-Fraktion gibt sich besorgt, dass es nicht gelingt, den Green Deal für die Berliner Bevölkerung »möglichst konkret und nahbar zu machen«, wie Lux’ Fachkollege Danny Freymark sagt. Freymark macht sich ebenfalls Gedanken, dass womöglich auch nur ein Cent der in Aussicht gestellten EU-Mittel nicht abgerufen würde. Denn klar ist: die Umsetzung des Green Deals muss noch in dieser Legislaturperiode begonnen werden.

Dass der CDU-Politiker, dessen Partei sonst in Berlin eher nicht als erstes mit umweltpolitischem Engagement in Verbindung gebracht werden dürfte, den Green Deal als »sehr spannendes Thema« erachtet, mag an der Hand- und Unterschrift liegen, die dieser trägt, nämlich die von Freymarks Parteikollegin Ursula von der Leyen, ihres Zeichens derzeit EU-Kommissionspräsidentin. Vielleicht sind es auch die etwa 100 Milliarden Euro, die EU-weit für den ökologischen Umbau der Wirtschaft vorgesehen sind, die in der CDU-Fraktion etwas klingen lassen – und die Christdemokraten womöglich dazu angeregt haben, das Thema gern für sich zu »claimen«, also zu beanspruchen, wie es die Linke-Politikerin Katalin Gennburg im Ausschuss kritisch anmerkt. Die stadtpolitische Sprecherin ihrer Fraktion zeigt sich der Agenda mit den vergleichsweise ehrgeizigen Klimazielen wohl zugeneigt, erklärt aber auch klipp und klar: »Eine Belastung der Menschen in Zeiten der Inflation ist nicht akzeptabel.« Denn Berlin ist auch die Stadt der von Armut Betroffenen, der von steigenden Preisen, Mietenwahnsinn, Investorendruck und in stetiger Verdrängungsangst lebenden Hunderttausenden.

Vieles muss beim Umbau der bisherigen Infrastruktur, hin zu einer, die zukunftsfähige und nachhaltige Produktions- und Lebensweisen ermöglicht, ohne damit die gesellschaftlichen Verwerfungen des krisengeschüttelten globalen Kapitalismus noch zu vertiefen, geklärt werden – und wer die Kosten dafür trägt, darf nicht an letzter Stelle stehen. Aber es darf auch nicht daran scheitern. »140 Euro zahlt der normale Berliner Haushalt im Durchschnitt jährlich für die Entsorgung«, erläutert Andreas Thürmer. »Das sind relativ absolute Kosten, da darf man schon mal diskutieren, ob es fünf Euro mehr sein dürfen, wenn es für alle sinnvoll ist«, findet der BSR-Vertreter.

Denn mit den Subventionierungen durch den Green Deal, bei dem die investitionsbedürftigen Anlagen, Gebäude und Fahrzeugflotte saniert und umgerüstet werden, ist es nicht getan. Neue Leistungen kosten Geld. So wie die künftig kostenlosen Sperrmüllaktionstage, die die Bezirke zur Verfügung gestellt bekommen sollen. »Es muss uns etwas wert sein, die Dinge im Kreislauf zu halten, eine Tonne im Kreislauf muss so viel kosten dürfen wie eine Tonne Abfallvermeidung«, findet Thürmer.

Das Problem dürfte an anderer Stelle auftreten: »Die Energieeffizienzrichtlinie wird Berlin stark treffen«, ist sich Hildegard Bentele (CDU), Mitglied des Europäischen Parlaments und als Expertin in den Ausschuss geladen, sicher. Denn nachdem man mit der Industrie als einem Hauptverursacher von Kohlendioxid durch den Handel mit Emissionszertifikaten mit einer Senkung von 42 Prozent bereits recht zufriedenstellende Quoten bei der CO2-Reduzierung erreicht hat, soll das Konzept nun auf Gebäude und den Flugverkehr ausgeweitet werden. Insgesamt soll der CO2-Ausstoß in der EU um über 55 Prozent runter.

Um bei den Gebäuden die aktuell angestrebte Verdoppelung der Einsparungen bis 2030 zu erreichen, müsste die Sanierungsrate in Berlin bei 3,2 Prozent liegen, erklärt Moritz Mund vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). Faktisch liegt sie aber bei unter einem Prozent. Das Problem im Gebäudesektor fokussiert sich auf die Frage der Wärmeversorgung. Die Emissionen sind demnach stagniert, sollen aber bis 2030 um 60 Prozent reduziert werden. Die Wärmeversorgung mit erneuerbaren Energien soll demgegenüber im gleichen Zeitraum um 60 erhöht werden. Die Frage sei, so Moritz Mund, ob man den »Energieverbrauch reduzieren oder Wärme emissionsärmer machen« wolle. Was den Betrieb zukünftiger Wasserstoffnetze angehe, die die Fernwärme, die in Berlin 70 Prozent der Versorgung ausmacht, ersetzen soll, »sei man in großer Sorge, wie das zukünftig geregelt werden wird«. Geothermie, also Erdwärme und Abwärme, zum Beispiel bei der Müllverbrennung, sollte man als Alternativen nicht ausschließen.

Es sind nicht die einzigen Fragen, die bis auf Weiteres offenbleiben werden: So hat ein Klimasozialfonds, der das Risiko der Belastung für die Menschen senken könnte, bislang keine Mehrheit im Europäischen Rat. Denn wenn die Häuser energieeffizienter werden, ist das eine Sache, aber wird die EU auch dafür sorgen, dass die Mieten bezahlbar bleiben? Und wird Wasserstoff, Hoffnungsträger für die Abkehr von Gas und Öl, ein »grüner« Wasserstoff sein?

Volker Löwe von der Städtepartnerschaft Berlin–Brüssel erklärt in der Anhörung im Ausschuss die Finanzierungsmöglichkeiten des Green Deal: Ein Teil käme aus dem Corona-Wiederaufbau-Paket mit knapp 750 Millionen Euro zur Unterstützung von Reformen und Investitionen der EU-Länder. 37 Prozent davon sollen zugunsten von Maßnahmen des Green Deal verwendet werden. Davon erhält Deutschland 26,5 Milliarden Euro – 42 Prozent sind gebunden an Ausgaben für die Sicherung und den Erhalt der biologischen Vielfalt: Dekarbonisierung durch den Einsatz von Wasserstoff, klimafreundliche Mobilität und klimafreundliches Bauen. 9,7 Milliarden Euro werden zusätzlich aus dem EU-Strukturfonds, den sogenannten EFRE-Mitteln, bereitgestellt: 680 Millionen Euro davon könnte Berlin erhalten sowie weitere 29,1 Millionen Euro aus dem dazugehörigen Klimaprogramm und drei Millionen Euro aus dem Umweltprogramm.

»Wir sehen im Green Deal mehr Chancen als Risiken«, sagt Andreas Thürmer. Aber man müsse es den Menschen vermitteln: »Der Umbau der Stadt ist kein Verzichtsprogramm, sondern kann eine saubere, attraktive, lebenswerte Stadt bedeuten.«

Positiv wollen die Expert*innen festhalten: Großstädte wie Berlin können im Green Deal eine herausragende Rolle spielen. Weil angesichts von Verdichtung und der Vielzahl von Bewohner*innen schnell wirkliche Veränderungen bewirkt und viele Menschen erreicht werden könnten. »Wir sind zuversichtlich, keinen Euro liegen lassen zu müssen«, sagt Silke Karcher (Grüne) Staatssekretärin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz.

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