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Endlich erwachsen?

Ersan Mondtag widmet sich mit seinem Stück »Geschwister« am Maxim-Gorki-Theater Berlin dem Umgang mit der unaufgearbeiteten NS-Geschichte

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.
Die deutsche Nachkriegsgeschichte gleicht dem Weg durch ein Gruselkabinett: "Geschwister" am Berliner Maxim-Gorki-Theater
Die deutsche Nachkriegsgeschichte gleicht dem Weg durch ein Gruselkabinett: "Geschwister" am Berliner Maxim-Gorki-Theater

West-Berlin im Jahr 1967: ein herrschaftliches Haus, Gemälde, Leuchter, Jagdtrophäen, sorgsam sortierte Bücherregale, zwei Treppenläufe führen zu einer Galerie. Das Radio berichtet vom Schah-Besuch. Im Erdgeschoss deckt die türkische Haushälterin gerade den Tisch, die Dame des Hauses blickt ihr auf die Finger, der Herr des Hauses telefoniert mit Bonn.

Erst später wird man erfahren, worum es in dem Gespräch geht. Um Akten, die endlich vom Tisch gehörten, um die Verjährung von Verbrechen, die während der Nazi-Zeit begangen wurden. Den Keller kann man nicht sehen, und ist doch sicher, dass dort Leichen begraben liegen. Ersan Mondtag taucht mit seinem Stück »Geschwister« am Maxim-Gorki-Theater Berlin tief in den Mief der alten Bundesrepublik ein.

Falilou Seck spielt das Familienoberhaupt, mit ehrerbietigen Bewegungen schreitet er durch die Halle, schwenkt das Rotweinglas, demütigt routiniert seine Gattin, lacht über einen Witz, den er am Telefon gemacht hat, will ihn ihr aber nicht erzählen. Eine kluge Szene ist das, die beides enthält: das Schweigen der Nachkriegszeit und die Gewalt, die in diesem Schweigen fortlebte. Çiğdem Teke lacht schallend über nichts. Sie lebt für die Erinnerung an bessere Zeiten. Wie war das schön damals, im Winter 1938, lange vor der »Niederlage«. Die Bösartigkeit ihres Mannes erträgt sie im Wissen, dass es immer noch Schwächere gibt, an denen sie sich rächen kann: an der Haushälterin, an ihrem stotternden Sohn.

Der Junge hat die Sprachlosigkeit der Familie als Defekt kultiviert. Viel Text ist da ohnehin nicht, wer reden darf – und reden darf eigentlich nur der Hausherr –, klagt über das zerstörte Dresden, wütet über die protestierenden Chaoten und sieht sich selbst als einer von denen, die für Ordnung sorgen. Der Vater weiß noch nicht, dass seine älteste Tochter (Lea Draeger) zu den Unruhestiftern gehört. Verspätet kommt sie an den Tisch, in Lederjacke, mit einer Schramme im Gesicht und einer Frisur, die an Gudrun Ensslin erinnert.

Die Suppe kann endlich aufgetragen werden. Im Rhythmus des Patriarchen heben sie die Löffel an die Lippen. Das Lichtdesign taucht sie ganz in Grau, nicht nur die Einrichtung, sondern auch die Gesichter des Ensembles: Schwarz-weiß-Theater. Doch dann bekommt die älteste Tochter auf einmal Farbe ins Gesicht, nun löffelt sie sogar gegen den Rhythmus.

Eine Rebellin ist geboren, sie wechselt den Radiosender, die Familie erkennt ihre Stimme. Sie hat auf der Demonstration gesprochen, wütet gegen Schah, Kapitalismus und Nazi-Generation, greift auch die Eltern direkt an, fragt nach, wem denn dieses schöne Haus hier vor ihnen gehört habe. Der Vater will es angeblich nicht wissen, nur soviel gibt er ihr mit: Auch der Teller, von dem sie isst, hat den Vorbesitzern gehört.

Später sorgt er diskret für die Aufrechterhaltung der familiären Disziplin. Mondtag zeigt nicht, wie er sie verdrischt, aber das ist auch nicht nötig. Die Art, wie Falilou Seck gemessenen Schrittes die Treppe zum Zimmer seiner Tochter hochsteigt und nach getaner Pflicht »endlich Feierabend« seufzt, erzählt mehr von der Gewalt in diesem sehr deutschen Haus, als es explizite Darstellungen vermöchten. Leider hält Mondtag den subtilen Stil nicht durch. Der zweite Teil des eineinhalbstündigen Abends (keine Pause) gerät ihm deutlich plakativer.

Zeitsprung, drei Jahrzehnte sind vergangen, die Eltern sind gestorben. Auch die rebellische Tochter kam bei einer Demonstration ums Leben. Die jüngere ist nun Herrin im Haus, Ariane Andereggen gibt sie als lustige, gutmütige Frau, die nun endlich ihre Freiheit genießen will. Sie schenkt der alt gewordenen Haushälterin den Perlenschmuck der Mutter, arrangiert sich mit dem Nazi-Erbe auf ihre eigene Weise: nicht drüber reden, stattdessen endlich ganz für sich leben. Doch da ist ja noch der jüngste Sohn. Er kehrt nach vielen Jahren zurück ins Elternhaus. Es ist die Rolle von Stargast David Bennent. Der Schweizer spielte als damals 13-Jähriger den Oskar Matzerath in Volker Schlöndorffs Verfilmung der »Blechtrommel« von Günter Grass.

»Du bist ja erwachsen geworden«, staunt Andereggen nicht schlecht, als sie den verloren geglaubten Bruder plötzlich vor sich sieht. Gar kein schlechter Witz, doch ein wenig böse ist er auch. Bennent gehört zu den Künstlern, die bereits am Anfang ihrer Karriere ihren größten Erfolg erreichten, bis heute ist er für viele eben der Matzerath.

Die beiden Geschwister streiten sich bald ums Erbe. Dabei geht es dem Bruder nicht ums Geld, er will die Familiengeschichte aufarbeiten, er fordert den Schlüssel zu einem Versteck, in dem sich Akten und Unterlagen finden, Beweise für die Verbrechen der Familie. Recht simpel ist diese Wendung des Stücks, sie erinnert an all die Romane, in denen die Erzähler auf dem Dachboden ihrer Großeltern auf SS-Uniformen und Hitlerporträts stoßen.

Auch die Dämonen der Vergangenheit verstehen sie hier etwas zu wörtlich. Der Sohn wird von den Spielern aus dem ersten Teil durch das Haus gejagt, wie Zombies schleichen sie ihm hinterher. Was im ersten Teil nur angedeutet wird, muss nun schnell auserzählt werden. Die rebellische Tochter hat damals das Elternhaus verlassen, nicht ohne vorher noch den Gashahn aufzudrehen. Die Botschaft ist eindeutig: Das Schweigen von der Gewalt erzeugt nur immer neue Gewalt, die Täterschaft einer Generation überträgt sich auf die eine oder andere Weise auf die nächste. Die beiden verbliebenen Geschwister stehen stellvertretend für einen Umgang mit der Geschichte. Während Andereggens Tochter sich als Nachgeborene und selbst als Opfer der Elterngeneration versteht, will Bennents Sohn endlich alles aufdecken.

Man könnte meinen, diese Geschichte wäre etwas aus der Zeit gefallen. Der zweite Teil spielt im Jahr 2000. Sind im übersprungenen Zeitraum nicht schon wichtige Schritte, auch zur Aufarbeitung, bereits erfolgt? Was ist mit Brandts Kniefall in Warschau, Weizsäckers Rede von der »Befreiung«, mit dem Historikerstreit oder der Wehrmachtsausstellung? Für Mondtag scheint all das nicht genügt zu haben, um von gelungener Aufarbeitung zu sprechen. Und er liefert einen Beweis: Der Abend schließt mit einem Bogen zu den NSU-Morden. Am 9. September 2000 töteten die Terroristen den Blumenhändler Enver Şimşek.

Das Radio, so etwas wie ein weiteres Ensemblemitglied an diesem Abend, berichtet von den Ermittlungen, die den Täter im kriminellen Milieu vermuten, unter Migranten. Auch diese These der Inszenierung ist sehr klar formuliert: So was kommt von so was. Dass eine Bande Terroristen über Jahre unbehelligt morden konnten, lag eben daran, dass es in Behörden und in der Gesellschaft kein Bewusstsein von der Gewalt gab, die sich seit Jahrzehnten fortsetzt. Und daran, dass die Opfer weiterhin als andere und Fremde betrachtet wurden, nicht als vollwertige Bürger dieses Landes. Mit dieser Wendung erreicht der Abend auf den letzten Metern doch noch große politische Aktualität. Eine der bemerkenswertesten Berliner Produktionen dieser Saison.

Nächste Vorstellung: 26. Juni
www.gorki.de

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