nd-aktuell.de / 02.08.2022 / Kultur / Seite 1

Schwindel

Spaß und Verantwortung: Olga Hohmann entdeckt an sich eine mentale Labyrinthitis

Olga Hohmann

Vor ein paar Jahren wurde mir von einem Tag auf den anderen schwindelig. Es war ein Gefühl, das ich noch nie zuvor erlebt hatte – und obwohl es mir fremd war, führte es vor allem dazu, dass ich mich selbst meiner Umgebung fremd zu fühlen begann. Schon die Übersetzung des deutschen Wortes Schwindel ist diffus, denn es ist mir damals wie heute unmöglich zu definieren, ob es sich um „vertigo» (Gleichgewichtsverlust) oder um „dizziness» (Benommenheitsgefühl) handelte.

Das Symptom veränderte meine Welt sofort. Es war so, als ob die Dinge um mich herum mir nicht mehr in ihrer Bedeutung erschienen, sondern nur noch als ästhetische Phänomene – ihre Textur, ihre Farbe, ihre Bewegung wurde plötzlich wichtiger (und offensichtlicher) als ihre Funktion. Mehrmals verpasste ich eine U-Bahn, weil ich von der Reflexion auf der gefliesten Wand des U-Bahnhofs abgelenkt war. Wenn ich eine weiße Wand anschaute, sah ich nun keine weiß angestrichene Fläche mehr, sondern ein sich bewegendes Gewimmel von helleren und dunkleren Flecken und Schattierungen – Schatten und die bewegliche Flüssigkeit, die sich um den Glaskörper des Auges herum befindet. Meine Wahrnehmung richtete sich plötzlich auf die Wahrnehmung selbst – ich sah meinem eigenen Sehvorgang zu.

Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, öffnete ich die Augen und starrte eine Weile an die Wand gegenüber meines Bettes, hoffend, dass die Punkte sich über Nacht aufgelöst hatten und ich einfach wieder eine weiße Wand sehen würde. Natürlich hatten sie das nie, denn dass ich ganz plötzlich, erstmals, meine Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hatte, war ja der Grund für ihr Erscheinen.

Es war so wie in dem Moment, als ich meine eigene Nasenspitze das erste Mal sah: Plötzlich erschien in meinem Augenwinkel ein verschwommener rosafarbener Punkt, den ich nicht zuordnen konnte. Erst als ich anfing, mit meinem Finger in meinem Augapfel herumzustochern, wurde mir klar, worum es sich bei dem Fleck handelte. Nachdem mir der rosafarbene Nasen-Punkt aufgefallen war, wurde ich ihn nicht mehr los – den ganzen Tag über blieb er am inneren Rand meines Auges hängen und besetzte meine Sicht, und erst am nächsten Tag, als ich ihn vergessen hatte, war er verschwunden.

Diese Beobachtung erinnert mich an einen Text von Roland Barthes, der eine Eigenart des in Paris lebenden Schriftstellers Guy de Maupassant beschreibt, welcher tagtäglich mit seiner besonderen Abneigung gegenüber dem Eiffelturm konfrontiert war. Als Konsequenz daraus fuhr Maupassant jeden Tag mit dem Fahrstuhl zum Restaurant des ihm verhassten Bauwerks hinauf, um dort Mittag zu essen. Der Grund: Sich selbst auf dem Eiffelturm zu befinden, hieß, am einzigen Ort in Paris zu sein, von dem aus man ihn nicht sehen musste.

Die Zeit des Schwindels, es waren am Ende mehrere Monate, war eine Zeit der akuten Krise. Das Albtraumhafte bestand vor allem darin, dass es nichts gab, was den Zustand linderte oder veränderte – keine Tageszeit, kein Nahrungsmittel, keine Körperhaltung half gegen ihn. Der Schwindel war jetzt ganz einfach „ich».

Auch Ärzt*innen sind ratlos, wenn die Patientin zur Beschreibung ihres Zustands den Begriff Schwindel verwendet. Jede Form des körperlichen Leidens, angefangen bei harmlosen Problemen wie niedrigem Blutdruck bis hin zu tödlichen Krankheiten, kann die Ursache sein. Das Problem kann in unterschiedlichen Organen liegen – im Zentralnervensystem, Herz, Gehirn oder (besonders prominent) im Gleichgewichtsorgan im Ohr. Für jedes dieser Organe gibt es diverse Erkrankungen, die die Symptome hervorrufen – darunter zum Beispiel die das Ohr betreffende Labyrinthitis.

Ich weiß bis heute nicht, was den Schwindel damals hervorrief und warum er nach einigen Monaten wieder verschwand – trotzdem kommt mir der Begriff Labyrinthitis als Beschreibung meines Zustands plausibel vor. Vielleicht handelte es sich um eine Art mentale Labyrinthitis. Die Welt, wie ich sie kannte, hatte sich in ein Labyrinth verwandelt, die Wände der mir vertrauten Räume hatten sich verschoben und neu zusammengesetzt.

Selbst als der Schwindel wieder verflogen war, blieb mir ein Teil des Labyrinths erhalten. Es war, als hätte sich mir eine Wahrnehmungsebene eröffnet, auf die ich nun zugreifen konnte, wenn ich wollte – die labyrinthitische Realität war nämlich schon dagewesen, bevor sie mir krisenhaft begegnet war –, sie war mir nur vorher nie aufgefallen. Nachdem ich sie erlebt hatte, konnte ich mich nun aktiv dazu entscheiden, anstelle der einfahrenden U-Bahn ihre Reflexion auf den Fliesen zu betrachten oder die weiße Wand nicht als weiß, sondern als ein Gemisch hellerer und dunklerer, sich bewegender Flecken wahrzunehmen. Selten entschied ich mich dazu, diese Realität zuzulassen, denn ich war ängstlich, sie würde mich, hatte ich sie einmal ins Leben gerufen, nicht mehr verlassen – der vielleicht schlimmste Teil meiner damaligen mentalen Labyrinthitis: die Ungewissheit, ob sie mich jemals wieder verlassen würde. Trotzdem – die Welt hatte sich für mich um mindestens eine Realität erweitert, und ich fühlte mich, so misstrauisch ich ihr gegenüber blieb, auch durch sie bereichert.