nd-aktuell.de / 27.06.2022 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1

Scholz hat nichts gelernt

Ökonom Rudolf Hickel über die Inflation, die konzertierte Aktion des Bundeskanzlers und ihre historischen Vorbilder

Simon Poelchau

Nächsten Montag lädt Bundeskanzler Olaf Scholz Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände zu einer »konzertierten Aktion«. Was halten Sie davon?

Die Erfahrung lehrt, dass die beiden historischen Projekte einer konzertierten Aktion jämmerlich gescheitet sind. 1967 startete Schillers »konzertierte Aktion«. Sie ist ein wichtiger Bestandteil des im »Stabilitäts- und Wachstumsgesetz« verankerten Kooperativismus des deutschen Globalsteuerungs-Keynesianismus. Als erkennbar wurde, dass die Lohnleitlinien zu Lohnleidlinien pervertieren, sind die Gewerkschaften zu Recht ausgestiegen. Ein weiterer Grund für das Aus war die damalige Verfassungsklage des Arbeitgeberverbandes gegen das Mitbestimmungsgesetz von 1976. Übrigens kann Olaf Scholz auf das seit 1967 geltende Gesetz zum Neustart seiner konzertierten Aktion zurückgreifen.
 In der Schröder-Fischer-Regierung erfolgte 1999 die Wiederbelebung, dieses Mal unter der Losung »Bündnis für Arbeit«. Der Versuch, auf der Basis der Agenda 2010 das Ja der Gewerkschaften zu erhalten, ist schnell gescheitert. Die Regierung sah sich bald gezwungen, im Alleingang die Sozialdemontage mit der Agenda 2010 durchzusetzen, die zum Zuwachs an prekären Arbeitsverhältnissen geführt hat.
 Ich kann nur hoffen, dass Olaf Scholz bei dieser erneuten Wiederbelebung der konzertierten Aktion die Lehre kennt: Fundamentale Widersprüche zwischen Arbeit und Kapital und die damit verbundenen Interessengegensätze lassen sich nicht zu Lasten der von Arbeitsplätzen Abhängigen wegkooperieren.

Sie sind also grundsätzlich gegen solche Gespräche?

Keineswegs. Ich bin für einen makroökonomischen Dialog zwischen dem Staat und den Sozialpartnern. Es geht darum, Möglichkeiten gemeinsamer Instrumente auszuloten. Ein Beispiel ist die angewendete Sonderregelung Kurzarbeit erst in der Finanzmarkt- und dann in der Coronakrise. Vor allem müssen mit einer schonungslosen Lageanalyse die Fakten auf den Tisch. Hinzugezogen werden sollte das plurale Spektrum wirtschaftswissenschaftlicher Beratung, also nicht nur der nebulöse »Rat der fünf Weisen«.

Und was sind die Fakten, was sind die Trends?

Wichtigster Aufklärungsbedarf besteht zur Inflation mit ihren Ursachen, sozial-ökonomischen Folgen und den Gegenmaßnahmen: Corona-Folgen, gerissene Lieferketten in der aggressiv globalisierten Welt, durch den Krieg Russlands in der Ukraine belastete Rohstoff- und Getreidelieferungen sollten durchleuchtet werden. Hinzu kommt eine schonungslose Untersuchung wachsender monopolistischer Preissetzungsmacht vor allem auf den Energiemärkten.

Welche Rolle spielt die Geldpolitik?

Eine konzertierte Absage an die Behauptung, die Politik des billigen Geldes habe ein gigantisches Inflationspotenzial geschaffen, wäre ein großer Erfolg der konzertierten Aktion. Wir haben es nicht mit einer monetär getriebenen Geldentwertung zu tun. Wie soll eine Zinserhöhung der Europäischen Zentralbank den Gas- oder Rohölpreis bremsen? Auf dieser Seite bleibt die Zinswende erfolglos. Allerdings gerät vor allem die kreditfinanzierte Wirtschaft unter Druck.

Häufig ist derzeit die Rede von der Gefahr einer Preis-Lohn-Spirale, dass also aufgrund der hohen Inflation hohe Lohnsteigerungen eingefordert werden, die die Inflation wiederum weiter nach oben treiben. Inwiefern besteht die Gefahr, dass die konzertierte Aktion lediglich genutzt wird, um von den Gewerkschaften Lohnzurückhaltung zu fordern?

Das wird sicherlich das entscheidende Thema der Neuauflage der konzertierten Aktion. Natürlich haben die Arbeitgeberverbände mit ihrer Lobby größtes Interesse, die Lohnpolitik zu disziplinieren. Der Bundeskanzler muss wissen, dass Schillers konzertierte Aktion von 1967 an der Lohndisziplinierung – unterstützt durch »wilde Streiks« gegen die eigenen Gewerkschaften – gescheitert ist.

Die Inflation betrug zuletzt 7,9 Prozent. Sind die Gewerkschaften überhaupt in der Lage, so hohe Lohnforderungen durchzusetzen, dass die Kaufkraftverluste im Rahmen der Preissteigerungen aufgefangen werden?

In der Stahlindustrie hat die IG Metall gerade Lohnsteigerungen nach Einmalzahlungen von 6,5 Prozent durchgesetzt. Dieser Abschluss zeigt, dass in diesen Zeiten der ökonomischen Belastungen und Knappheit an Arbeitsangebot die Beschäftigten mit guter Arbeit motiviert werden müssen. Für die kommenden Monate lässt sich sagen, dass das Ausmaß des Inflationsausgleichs die Lohnforderungen bestimmen wird. Dabei muss klar sein: Die angebotsbedingte Inflation wird erstens länger anhalten. Zweitens muss der Staat vor allem im Bereich niedriger Einkommen mit politischen Maßnahmen die Inflation abfedern. Betroffen sind auch die Beschäftigten in den Niedriglohngruppen und in prekären Arbeitsverhältnissen. Der Staat ist gefordert, mit diesen Maßnahmen die Tarifpolitik von den Inflationsfolgen zu entlasten.

Ein Vorschlag zur Lohnpolitik für die konzertierte Aktion ist aus dem Umfeld des Bundeskanzlers durchgesickert.

Es ist zu hören, Olaf Scholz wolle den Tarifparteien ein Tauschgeschäft anbieten: Arbeitgeber leisten eine steuerfreie Einmalzahlung und dafür verzichten die Gewerkschaften auf einen Teil der Lohnsteigerungen. Dieser massive Eingriff in die Tarifautonomie durch die Politik, den der Staat durch Steuerverzicht subventioniert, zeigt: Aus dem Scheitern früherer Bündnisse scheint nichts gelernt worden zu sein. Bevor es losgeht, widersprechen die Gewerkschaften, die für 43 Prozent der tarifvertraglich gesicherten Beschäftigten stehen, massiv. Die Arbeitergeberverbände befürchten eher eine Belastung der Tarifverhandlungen. Und schließlich ist doch klar: Durch die steuerfreie Einmalzahlung aller Unternehmen würden jene mit hohen Gewinnen auch noch subventioniert.

Was wären geeignete zusätzliche Maßnahmen zum Inflationsausgleichs?

Als erstes muss die Preistreiberei in der hochkonzentrierten Unternehmenswirtschaft gestoppt werden. In der Debatte um den Tankrabatt hat man gesehen, wie es seitens der großen Mineralölkonzerne zum Missbrauch ihrer Marktmacht gekommen ist. Eine dagegen gerichtete Sondersteuer auf die Übergewinne wäre eine mutige Antwort. Insoweit die Übergewinne mit oligopolistischer Marktmacht durchgesetzt werden, ließe sich diese in der längeren Frist durch die Dekonzentration bis hin zur Zerschlagung abschaffen.

Dadurch werden die Menschen aber noch nicht direkt entlastet.

Diese Maßnahmen würden sicherlich preisdämpfend wirken. Aber es stimmt, es braucht darüber hinaus individuell gezielte Maßnahmen für jene, die die Belastungen aus eigener Kraft nicht bewältigen können. Zuschläge bei der Grundsicherung, ein Mobilitätsgeld, Heizkostenzuschüsse und ein höheres Kindergeld wären geeignete Maßnahmen. Außerdem muss man über eine Regulierung der Preise im Energiebereich bis hin zu Preisstopps entscheiden.

Eine mögliche Maßnahme zur Senkung der Preise, die im Gespräch ist, ist die Absenkung der Mehrwertsteuer zumindest auf Lebensmittel.

Ich bin strikt gegen eine allgemeine Senkung der Mehrwertsteuer. Das Ziel ist, die durch die Preisexplosion im Energie- und Lebensmittelbereich Belasteten nicht indirekt über sinkende Mehrwertsteuer, sondern direkt über Zuschüsse zu entlasten. Dann entfallen auch die Mitnehmereffekte zugunsten der Einkommensstarken.

Gibt es weitere Gründe gegen die Mehrwertsteuersenkung?

Ja, nicht nur die Grundnahrungsmittel im Discounter würden billiger werden, sondern auch die eingeflogene Ananas im Delikatessengeschäft. Wirklich sozial ausdifferenziert kann eine Mehrwertsteuersenkung nicht wirken. Gleichzeitig ist nicht sicher, ob beziehungsweise in welchem Umfang die Unternehmen die Steuersenkung über die Preise weitergeben.

Bei allen Maßnahmen müsste der Staat Geld in die Hände nehmen. Doch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hält weiterhin an der Wiedereinhaltung der Schuldenbremse im kommenden Jahr fest. Wird Lindner damit Erfolg haben?

Auf diese neoliberale Ideologie würde ich gerne mit einem Zitat frei nach Marx antworten: Die materielle Gewalt der Verhältnisse wird auch für den Bundesfinanzminister der beste Lehrmeister sein. Die Schuldenbremse bremst staatliches Handeln. Die Intensität, mit der die Schuldenbremse trotz widriger Bedingungen gefordert wird, dient eher der Vertuschung von Zwängen. Hier wünsche ich mir in den Beschlüssen der konzertierten Aktion die finanzpolitische Botschaft: »Die Kreditfinanzierung für gesellschaftlich erforderliche Investitionen im Sinne der goldenen Regel ist auch von den Finanzmärkten her rational«.