Fünf Jahre Haft für 3522 Morde

Ehemaliger KZ-Wachmann Josef S. wegen Beihilfe zu Naziverbrechen verurteilt

Zwischen August 1940 und April 1945 richteten die Faschisten im Zuchthaus Brandenburg-Görden 2032 Männer hin. Die Mehrheit von ihnen hatte dem Naziregime Widerstand geleistet, Zweifel am Sieg Hitlerdeutschlands im Zweiten Weltkrieg geäußert oder war desertiert. Neben dem heute noch als Justizvollzugsanstalt genutzten Gefängnis gibt es seit 2018 im ehemaligen Direktorenwohnhaus der Haftanstalt eine Gedenkstätte, die an diese Opfer erinnert.

Nach den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Ravensbrück gehört diese Gedenkstätte zu den wichtigsten Erinnerungsorten im Land Brandenburg. Gleich um die Ecke ist die Max-Josef-Metzger-Straße, benannt nach einem katholischen Priester, der wegen seiner pazifistischen Überzeugung vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 17. April 1944 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet wurde. Am Ende der Max-Josef-Metzger-Straße steht eine Turnhalle, die vor knapp neun Monaten zum Gerichtssaal umfunktioniert wurde und in der nun am Dienstag das Urteil gegen einen ehemaligen Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen gesprochen wurde.

Wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 3522 KZ-Häftlingen in Tateinheit mit Beihilfe zum versuchten Mord erlegte ihm das Landgericht Neuruppin eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren auf. Er soll die Kosten des Verfahrens tragen und auch die Kosten der Nebenkläger, die selbst Häftlinge waren oder Angehörige von Ermordeten sind. Der Angeklagte Josef S. bestritt während der mehr als 30 Verhandlungstage immer wieder, jener bis zum SS-Rottenführer beförderte Josef S. zu sein, den es im Lager Sachsenhausen von 1942 bis Februar 1945 nachweislich gegeben hat.

Gebetsmühlenartig habe der 101-Jährige Sätze eingeworfen wie »Da bin ich nicht gewesen«, »War ich nicht«, »Ich konnte doch kein Deutsch«, resümierte der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann in der Urteilsbegründung. Aber: »Wir haben so viele Indizien gefunden, die alle auf Herrn S. hinweisen, dass wir keinen Zweifel haben.«

Es passt alles zusammen: das Alter, die Größe, der Geburtsort Mariampol in Litauen. Auch geht aus Akten des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit hervor, dass der Geheimdienst 1973 wusste, dass der damalige Traktorist Josef S. Wachmann in Sachsenhausen gewesen war. Er geriet ins Visier der Staatssicherheit, da seine Tochter als Leistungssportlerin ein sogenannter Reisekader war, also zu Wettkämpfen ins nichtsozialistische Ausland fahren durfte. Zu einer Anklage kam es damals jedoch nicht, sondern erst, nachdem die Ludwigsburger Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen 2018 den Fokus auf die noch lebenden KZ-Wachleute gerichtet hatte. 2019 gab es eine Hausdurchsuchung bei dem Angeklagten, der in Brandenburg/Havel lebt. Da der alte Mann nur für wenige Stunden am Tag für verhandlungsfähig erklärt wurde und die Fahrzeit zum Landgericht Neuruppin dabei mitgezählt hätte, verlegte das Gericht den Prozess nach Brandenburg/Havel, um die Anfahrtszeit wesentlich zu verringern.

Richter Lechtermann verwies am Dienstag auf die Ausflüchte des Angeklagten, die widerlegt werden konnten. So habe dieser anfangs behauptet, noch bis 1944 in seiner alten Heimat Litauen gelebt zu haben. Doch belegen Dokumente und ein Foto, dass er zu den rund 50 000 sogenannten Volksdeutschen gehörte, die in der Zeit des Hitler-Stalin-Pakts nach der Besetzung Litauens durch sowjetische Truppen nach Deutschland umsiedelten. 1941 trat er in die SS ein.

»Es ist eher unwahrscheinlich, dass er dies aus politischer Überzeugung tat«, erklärte Richter Lechtermann. Vermutlich sei er des eintönigen Alltags im Umsiedlerlager überdrüssig gewesen. Die Familie S. hatte wegen ihrer allenfalls rudimentären Deutschkenntnisse keine verlockende Perspektive in einem faschistischen Deutschland, in dem sie nach der rassistisch verblendeten Terminologie der Zeit mit dem Prädikat »wenig ausgeglichene Mischlinge« versehen wurde – die zweitniedrigste von vier Kategorien. Nur Josef S. selbst wurde in die etwas höhere zweite Kategorie eingestuft. Als er 1985 seine Rente beantragte, gab er im Formular auch korrekt an, von 1941 bis 1945 Kriegsdienst geleistet zu haben. Er habe dabei allerdings »geflissentlich« verschwiegen, dass er SS-Mann gewesen sei, sagte Lechtermann.

Für Axel Drecoll, Direktor der Stiftung brandenburgische Gedenkstätten, ist die Verurteilung »ein Signal«, dass solche Verbrechen nicht verjährten. Aber selbst wenn man Josef S. nichts hätte nachweisen können, wäre der Prozess nach Überzeugung der Stiftung nicht vergeblich gewesen. So eine gründliche Untersuchung zu den Wachmannschaften des Lagers Sachsenhausen, wie sie der Historiker Stefan Hördler als Sachverständiger für den Prozess leistete, habe es vorher nicht gegeben. Das hat auch einen wissenschaftlichen Wert.

Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren – genau dieses Strafmaß hatte Oberstaatsanwalt Cyrill Klement gefordert – ist noch nicht rechtskräftig. Der Angeklagte kann binnen einer Woche Revision gegen das Urteil einlegen. Verteidiger Stefan Waterkamp bemängelte am Dienstag, dass sein Mandant allein wegen seiner Tätigkeit als Wachmann verurteilt worden sei. Für die Mehrzahl der Verbrechen im KZ waren die Angehörigen des SS-Kommandanturstabs verantwortlich, der organisatorisch von der Wachmannschaft getrennt war. Zwar beobachteten Wachleute in Sachsenhausen Häftlinge nicht allein von den Wachtürmen aus, sondern führten diese auch zu Erschießungen. Etwas Derartiges konnte Josef S. allerdings nicht nachgewiesen werden. Der Angeklagte habe aber mit seinem Wachdienst die Tötungsmaschinerie der SS »bereitwillig« unterstützt, heißt es in der Urteilsbegründung. Er habe in das Lager hineinschauen und Verbrechen sehen können. Wenn er Konsequenzen gezogen und nicht mehr mitgemacht hätte, säße er heute nicht auf der Anklagebank, so Lechtermann. Es habe Fälle gegeben, in denen SS-Leute Gewissensbisse bekamen und sich an die Front versetzen ließen.

Zur Strafzumessung führte Lechtermann aus, mildernd sei das hohe Alter des Angeklagten berücksichtigt worden. Für diesen spreche auch, dass er sich dem Prozess nicht durch das Vortäuschen von Gebrechen zu entziehen versuchte. Zwar verlängerte sich das Verfahren mehrfach wegen Krankheiten und einer Operation des 101-Jährigen. Aber er kehrte doch immer wieder in den Gerichtssaal zurück. Dabei sei der Prozess sicher eine körperliche und psychische Belastung für ihn gewesen, so Lechtermann, da die Schrecken des Lagers heraufbeschworen worden seien, die kein Opfer jemals vergessen könne, »aber auch kein Täter«.

In dem Verfahren ging das Gericht auch der Frage nach, ob Josef S. so lange Lügengeschichten über seine Vergangenheit erzählte, bis er sie schließlich selbst glaubte. Das kommt bei Tätern vor. Jedoch werden eher konkrete einzelne Verbrechen verdrängt. Einen Zeitabschnitt von drei Jahren komplett auszublenden, wäre extrem ungewöhnlich.

Leider habe der Angeklagte sein Gewissen nicht durch ein Geständnis erleichtert, wie es sich KZ-Überlebende gewünscht hätten, bedauerte Lechtermann. Aber ein Geständnis sei in solchen Fällen sehr selten, erklärte Nebenklägeranwalt Thomas Walther, und so könne er nicht enttäuscht sein, dass es ein solches nicht gegeben habe. »Das Urteil dient der Gerechtigkeit. Insofern kann ich zufrieden sein«, sagte Walther. Was über die Verbrechen in Sachsenhausen im Prozess gesagt worden sei – zehntausende Häftlinge wurden dort ermordet –, »muss in uns einsinken«, meinte der Rechtsanwalt. »Wehret den Anfängen«, forderte er.

Efraim Zuroff vom Simon-Wiesenthal-Center sagte: »Wir sind zufrieden, dass er die maximale Strafe bekommen hat.« Der Begriff »maximal« bezieht sich hier auf die von Oberstaatsanwalt Klement geforderten fünf Jahre und darauf, dass andere KZ-Wächter, denen Beihilfe zum Mord in wesentlich mehr Fällen zur Last gelegt wurde, in geringerem Maß oder gar nicht bestraft wurden. Im Prinzip seien fünf Jahre angesichts der Dimension des Grauens lächerlich wenig, machte Zuroff klar.

Ob Josef S. seine Haftstrafe antreten muss, ist offen. Er könnte aus gesundheitlichen Gründen für haftunfähig erklärt werden. Diese Frage durfte im Prozess aber keine Rolle spielen.

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