nd-aktuell.de / 30.06.2022 / Kultur / Seite 1

Neuer Bitterfelder Weg

In Bitterfeld-Wolfen startet morgen das Kulturfestival »Osten«

Larissa Kunert

»Seh’n wir uns nicht in dieser Welt, dann seh’n wir uns in Bitterfeld« lautet ein oft zitierter Spruch, dessen Bedeutung sich zumindest durch Googeln nicht eindeutig klären lässt. Jedenfalls bietet das sachsen-anhaltische Bitterfeld-Wolfen[1], das 2007 aus der Fusion der beiden namensgebenden Städte hervorging, ab morgen tatsächlich viele Möglichkeiten der Begegnung.

Erstmals wird dort vom 1. bis 17. Juli das Kulturfestival »Osten« ausgerichtet. Unter der Leitung der Dramaturgen Aljoscha Begrich und Ludwig Haugk sowie der Kulturmanagerin Christine Leyerle beteiligen sich rund 60 Einzelkünstler und Kunstkollektive daran. Das Programm umfasst Produktionen und Projekte aus den Bereichen Theater, Performance, Musik, Film und bildende Kunst. Zudem werden Gesprächsrunden und Exkursionen angeboten.

Auf der Website des Festivals liest man, dass noch Fahrräder als Leihgaben gesucht werden, mit denen die Besucher sich zwischen den Festivalspielstätten bewegen können. Insgesamt soll »gegenseitiges Interesse« im Mittelpunkt stehen – Besucher werden zur aktiven Partizipation am Geschehen aufgefordert. Möglichkeiten in Form von Workshops und anderen Aktivitäten gibt es dazu offenbar viele.

Bei dem Festival soll es den Veranstaltern zufolge darum gehen, herauszufinden, was »Osten« als kulturelle Zuschreibung heute bedeutet. Ein besonderer Fokus liegt auf der Geschichte von Bitterfeld-Wolfen, das mit seinem Chemiekombinat einer der wichtigsten Industriestandorte der DDR war. Das hat Spuren hinterlassen: Zur Wendezeit zählte die Gegend um Bitterfeld und Wolfen zu den schmutzigsten Europas. Inzwischen hat sich Bitterfeld-Wolfen zu einem Zentrum regenerativer Energien mit viel Grün entwickelt. Dennoch verseuchen noch heute Chemieabfälle Teile des Grundwassers und der Erde. Zusammen mit Künstlern können Festivalbesucher die Brachen im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen besichtigen und dabei etwa über ökophilosophische Fragen diskutieren.

Schon in der DDR war Bitterfeld auch ein Ort der kulturellen Begegnung. Mit dem sogenannten Bitterfelder Weg wollte die DDR-Staatsführung Kunst und Produktion einander näherbringen. Jeweils 1959 und 1964 gab es eine Konferenz, auf der sich Arbeiter mit Künstlern – vor allem aus dem Bereich der Literatur – austauschten. Unter dem Motto »Greif zur Feder, Kumpel!«[2] wurden Erstere zum Schreiben ermutigt, Letztere gingen in die Produktion. Obwohl durchaus künstlerisch fruchtbar, versandete die Bewegung nach nur wenigen Jahren.

Die damaligen Konferenzen wurden im Bitterfelder Kulturpalast abgehalten, der jetzt dem Festival als Hauptveranstaltungsort dient. Nachdem das Schicksal des neoklassizistischen Monumentalbaus lange ungewiss war, hatte im letzten Jahr der aus der Region stammende Unternehmer Matthias Goßler die Leitung des Kulturpalasts übernommen. Nun wird das Festival von seinem plötzlichen Tod überschattet. Goßler starb in der Nacht zum Montag bei einem schweren Autounfall. Die Festivalbeteiligten wollen die zweiwöchige Veranstaltung Goßler widmen, ohne den »das Festival nicht möglich gewesen wäre« und der sie »mit seinem Vertrauen und seinem Mut inspiriert und motiviert« habe.

Festival »Osten«, 1.-17.7., Bitterfeld. Eröffnung am Freitag um 19 Uhr, Kulturpalast: »Welcome to Bitterfeld«

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1156849.bundestagswahlkampf-kampf-um-die-herzkammer.html?sstr=bitterfeld
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1152008.schreibende-arbeiter-als-die-ddr-literaturklub-wurde.html?sstr=bitterfelder|weg