• Berlin
  • Grundschulen in Neukölln

Systemfehler in der Nachmittagsbetreuung

Nach dem Wegfall des »Brennpunktstatus« droht drei Neuköllner Grundschulen der Exodus der Hortbeschäftigten

  • Rainer Rutz
  • Lesedauer: 4 Min.

Das Tarifrecht für den öffentlichen Dienst ist komplex. Dass es bisweilen auch voller ärgerlicher Fallstricke ist, spüren nun drei Grundschulen in Neukölln. Die Schule am Teltowkanal im Ortsteil Britz sowie die Karlsgarten-Grundschule und die Karl-Weise-Schule im Schillerkiez galten bisher wie 59 andere Berliner Schulen als sogenannte Brennpunktschulen. Ab 1. August ist für das Neuköllner Trio damit Schluss. »Brennpunkt« war mal: Die Bildungsverwaltung hat sie aus dem entsprechenden Programm herausgenommen.

Die Freude, das Stigma »Brennpunkt« losgeworden zu sein, währte an den betroffenen Schulen jedoch nur sehr kurz. Denn nun droht der Exodus der Hortbeschäftigten. In einem Brandbrief warnen die Elternvertreter bereits: »Unsere Horte bluten personell aus, wir haben noch weniger Hortpersonal und müssen im nächsten Schuljahr mit großen Betreuungsausfällen rechnen.«

Das Problem: Anders als die Lehrkräfte bekommen Erzieherinnen und Erzieher an Brennpunktschulen keine pauschale Lohnzulage in Höhe von 300 Euro im Monat, sondern werden über das Tarifrecht höhergruppiert. Fällt nun der »Brennpunktstatus« weg, verlieren zwar auch die Lehrkräfte ihre Zulage. Die Hortbeschäftigten allerdings büßen nicht nur ihr auch aufgrund von Abzügen ohnehin geringer ausfallendes Gehaltsplus ein. Sie werden auch wieder herabgruppiert, und zwar ohne dass die »Brennpunkt«-Dienstjahre anerkannt werden.

Unterm Strich kann sich das aufgrund des komplexen Systems aus Tarifgruppen und Erfahrungsstufen verheerend auswirken. »Das bedeutet bis zu 507 Euro brutto monatlich weniger für die Erzieher*innen, aber auch Nachteile für die späteren Rentenansprüche«, heißt es seitens der Elternvertreter. Die logische Folge könnte nun sein, dass die Hortbeschäftigten die Beine in die Hand nehmen und an Schulen wechseln, die weiterhin als Brennpunkt eingestuft sind.

Dass die Sorge begründet ist, zeigt sich bereits jetzt an der Karlsgarten-Grundschule, wo fünf von 14 Erzieherinnen und Erziehern »umgesetzt« wurden. »Ins Kollegium wurde eine klaffende Lücke gerissen, die Kinder haben ihre Bezugspersonen verloren«, sagt Daniela Schiewer, die koordinierende Erzieherin der Schule. Für Schiewer steht fest: »Die Idee, den Kolleg*innen in schwieriger Lage eine besondere finanzielle Anerkennung zukommen zu lassen, war ja gut gedacht – aber eben schlecht gemacht. An unserer Schule stehen wir nun vor einem Scherbenhaufen.«

»Tatsächlich sind die Schulen dank der politischen Entscheidungen sehenden Auges in diese Situation gerasselt«, sagt Tom Erdmann, Berliner Landeschef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). »Wir als GEW haben bereits 2018 bei der Einführung des aktuell geltenden Brennpunktprogramms vorgeschlagen, auch den Erzieher*innen eine Zulage zu zahlen, statt mit Eingruppierungen zu arbeiten. Das wäre der richtige Weg gewesen«, sagt Erdmann zu »nd«. Nun habe man den Salat. »Die Erzieher*innen gehen zu Recht auf die Barrikaden.«

Der Fehler liege im System, findet auch Philipp Dehne, der bildungspolitische Sprecher der Linksfraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Neukölln. Das beginne schon bei der generellen Definitionsfrage. Denn, so Dehne zu »nd«: »Die Grenze, wann eine Schule die Brennpunktzulage zugestanden bekommt, ist ja willkürlich gezogen.« Da ein komplexer Sozialindikator für eine Zulage fehlt, gilt als konkreter Indikator, dass 80 Prozent der Schüler eine Lernmittelbefreiung haben, weil die Eltern auf Hartz IV, Arbeitslosengeld, Wohngeld oder andere Sozialleistungen angewiesen sind.

Laut Bildungsverwaltung gibt es inzwischen zwar »einen Puffer« bis 75 Prozent. Auch müsse eine Schule die Grenze drei Jahre in Folge unterschreiten, um aus dem Programm gestrichen zu werden. An der grundsätzlichen Konstruktionsmisere ändert das wenig. Denn fällt eine Schule auch nur geringfügig unter den Richtwert, dann ist zwar kaum etwas besser geworden. Der »Brennpunktstatus« ist trotzdem weg – die Lehrkräfte haben 300 Euro weniger in der Tasche, und die Hortbeschäftigten schauen gänzlich in die Röhre. »Das zeigt, dass bei der Einführung der sogenannten Brennpunktzulage sich offenbar niemand Gedanken gemacht hat, was das langfristig für die Schulen bedeutet«, sagt Dehne, der sich auch in der berlinweiten Kampagne »Schule muss anders« engagiert.

Wie Dehne fordert auch Elena Gavrisch umgehend konkrete Lösungsvorschläge von der Verwaltung von Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD). »Was uns empört, ist das Schweigen der Bildungsverwaltung«, sagt die Elternvertreterin der Karlsgarten-Grundschule zu »nd«. »Es gab schon mehrere Briefe, doch keiner hat aktiv versucht, uns zu erreichen, keiner hat uns gesagt, wie es nach den Sommerferien weitergehen wird.«

Gemeinsam mit anderen Eltern der drei Neuköllner Schulen sammelt Elena Gavrisch nun Unterschriften, um bei der Bildungsverwaltung für eine faire Behandlung der Hortbeschäftigten und Sofortmaßnahmen gegen die personelle Notlage ordentlich Druck zu machen. 600 Unterschriften habe man bereits zusammen. Spätestens im August will man die Liste den Verantwortlichen auf den Schreibtisch knallen.

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