• Berlin
  • Internationales Drehorgelfest

Traditionsmusik im Handumdrehen

Das Internationale Drehorgelfest feiert das alte Berlin

  • Johanna Montanari
  • Lesedauer: 4 Min.

Schön gleichmäßig muss man die Kurbel drehen. Nicht zu langsam, nicht zu schnell. Armmuskeln braucht man auch. Dann leiert es los, aus den Orgelpfeifen. Am Freitagabend füllt sich der Platz vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg mit Orgelklängen: zwischen Ständen mit Essen und Getränken ist anlässlich des Internationalen Drehorgelfestes eine kleine Bühne aufgebaut, auf der gerade ein Drehorgelspieler aus Österreich ein Stück zum Besten gibt. Andere Spieler*innen stehen etwas entfernt und präsentieren ihre historischen Instrumente für die Vorbeilaufenden auf dem Kurfürstendamm. Zuhörer*innen sind eingeladen, auch mal selbst an der Kurbel zu drehen.

Schon seit 1979 gibt es das Fest. Nachdem es die letzten zwei Jahre wegen der Corona-Pandemie ausfallen musste, trafen sich die »weltbesten Drehorgelspieler aus aller Welt«, wie sie auf der Webseite des Fests angepriesen werden, am Wochenende wieder auf dem Breitscheidplatz. Die Moderatorin spricht stolz davon, dass es dieses Jahr 150 Teilnehmende aus neun Ländern sind, darunter neben Schweden, England und der Schweiz auch Chile und Mexiko. Die »Internationalen Drehorgelfreunde«, die das Fest veranstalten, schreiben liebevoll auf ihrer Webseite: »Zum guten, alten Berlin gehört die Drehorgel, im Berliner Sprachgebrauch: der Leierkasten. Zu Zeiten ohne Grammophon und Radio wurde durch ihn auch das einfache Volk mit Melodien aus Oper, Operette und Tanzmusik versorgt. Die breite Masse, die sich den Besuch von Oper, Musiktheater und Konzertsälen nicht leisten konnten, erreichten so die ›Schlager‹ der Zeit.«

Auf französisch heißt die Drehorgel Orgue de Barbarie, nach dem ersten bekannten Hersteller, dem Italiener Giovanni Barberi aus Modena, der 1702 erstmals eine kleine transportable Orgel vorführte. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verbreitete sich die Drehorgel dann in allen europäischen Großstädten. Sie wurde zum Instrument der Gaukler und Bettler. Manch ein Straßenmusiker wurde dabei von einem kleinen Affen begleitet, der das Geld einsammelte. Noch heute haben viele Drehorgelspieler*innen auf ihrem Instrument einen Plüsch-Affen sitzen.

Üblich war, dass Bettler ein Instrument mieteten und nicht kauften, um so ihr Geld zu verdienen. Insbesondere nach dem Ersten, aber auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg zogen viele von ihnen durch die Großstädte. Nach und nach verdrängten Radio und Schallplatte die Drehorgel, die heute in erster Linie eine touristische Attraktion ist. Und eben der Kern einer Szene begeisterter Drehorgelspieler*innen, die sich nun hier in Berlin trifft. »Det sind Leute, die ihr Jeld im Handumdrehen verdienen«, witzelt man in Berlin über sie.

Die Stadt verbindet mit dem Instrument eine lange Tradition, die 300 Jahre zurückreicht. Berühmt wurde Berlin für Drehorgeln mit dem 1847 geborenen Italiener Giovanni Battista Bacigalupo. Mit ihm begann eine Familiendynastie von Drehorgelbauern, die in verschiedenen Werkstätten fast 100 Jahre lang, zwischen 1879 und 1975, Instrumente herstellten. In der Schönhauser Allee 74a in Prenzlauer Berg, dem damaligen italienischen Viertel, findet sich dafür eine Gedenktafel am Haus, die an eine dieser Werkstätten erinnert.

Der Berliner »Miljöh«-Maler Heinrich Zille verewigte den Leierkastenmann auf seinen Zeichnungen. In der Moritat von Mackie Messer aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper von 1928 wird zu Beginn ein Leierkasten imitiert. Und im Nikolaiviertel steht eine Bronzeskulptur des Leierkastenmanns, 1987 erschaffen vom Bildhauer Gerhard Thieme.

Charlottenburg-Wilmersdorfs Bezirksbürgermeisterin Kerstin Bauch (Grüne) spricht einige Worte zur Eröffnung des Fests. Die internationalen Drehorgelspieler*innen sind teilweise in historischen Kostümen gekommen. Manche tragen Fliege, andere breitkrempige Strohhüte, viele schlohweiße Haare. Die Szene ist klein, man kennt sich, erzählt eine leidenschaftliche Drehorgelspielerin, die mit ihrem Mann aus einer schwäbischen Kleinstadt angereist ist. Sie trifft sich mit anderen Bekannten regelmäßig auf öffentlichen Plätzen, um zu spielen. Ärgerlich sei, dass manche Städte keine Genehmigungen für Drehorgelspieler*innen erteilen. Die meisten aus der Szene seien schon alt. »Ist eben ein Rentnerhobby«, sagt sie lachend.

Das erzählt auch ein gerade mal 20-Jähriger aus Bayern, der hauptberuflich als Kirchenmusiker arbeitet: »Uns junge Leute kann man an einer Hand abzählen.« Er steht im Frack an einer Original-Bacigalupo. Mindestens 15 000 Euro sei sie wert. Genau diese Drehorgel sei früher im Berliner Zoo von einem Elefanten gespielt worden, der für diese Aufgabe dressiert worden war. In den 80er Jahren sei das Instrument dann im Stall unter Heu vergraben wiedergefunden worden.

Früher gehörten vor allem Stücke zum Repertoire der Drehorgeln, die bei dem breiten Publikum Erfolg hatten und so möglichst viel Geld einbrachten. Doch was wird heute gespielt? Die schwäbische Drehorgelspielerin schwärmt von den verschiedenen Genres, die heute auf den historischen Instrumenten spielbar sind. Sie liebe zum Beispiel Salsa, und die Leute würden sich immer besonders freuen, wenn sie »Tequila« spielt, erzählt die Leierkastenfrau. An der Drehorgel nebenan ertönt gerade der 70er-Jahre Pop-Hit »Summer in the City« von »The lovin’ spoonful« – passend zu diesem schwül-heißen Berliner Wochenende.

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