nd-aktuell.de / 02.07.2022 / Kultur / Seite 1

Im Dickicht der alten Debatte

Der Streit um Antisemitismus auf der Documenta tobt. Zeitgemäße Positionen zur BDS-Kampagne gegen Israel, »israelbezogenen Antisemitismus« und deutsche Erinnerungspolitik, die jüngst auf einer Konferenz in Berlin zu hören waren, könnten Orientierungshilfe bieten

Gerhard Hanloser

Keine Debatte und kein Streitpunkt erhitzt die Gemüter so sehr wie der Problemkomplex »Antisemitismus und Israel«. Während einige Beobachter*innen einen besonders unter linken bis linksliberalen Akademiker*innen und Künstler*innen grassierenden »israelbezogenen Antisemitismus« ausmachen wollen, halten andere entgegen, der Antisemitismusvorwurf werde immer mehr als politische Waffe eingesetzt, um Kritik an Israel – in welcher Form auch immer – zum Verstummen zu bringen.

Auch die 15. Documenta in Kassel, die derzeit stattfindet, ist begleitet von äußerst lebhaften und heftigen Debatten und Vorhaltungen rund um das Thema. Auf der Kunstausstellung gerieten zuerst die Kurator*innen der indonesischen Künstler*innengruppe Ruangrupa für die Einladung eines palästinensischen Künstler*innenkollektivs in die Kritik, und zwar »weil Ruangrupa mit dieser Gruppe die Boykott-Aktion gegen Israel unterstützt«, wie eine regionale sogenannte »antideutsche« Gruppe deklarierte. Sogar der Ausstellungsraum wurde im Vorfeld mit Parolen beschmiert und die polizeilichen Ermittlungen gehen sowohl in Richtung pro-israelischer »Antideutscher« wie auch Rechtsradikaler. Bereits darin zeigt sich, dass die Anklage eines »israelbezogenen Antisemitismus« von scheinbar unterschiedlichen Akteur*innen kommen kann und diesen eine dementsprechend handfeste »Cancel culture« zuzutrauen ist. Außerdem war die Documenta seit ihrer Wendung und Öffnung nach links ab den 60er Jahren und in Richtung Osten ab den 70ern schon immer ein Angriffsziel von Rechtsradikalen und Deutschnationalen. Die aktuelle 15. Documenta öffnet sich nun wie keine andere zuvor gegenüber Stimmen und Kunst aus dem Globalen Süden – und dass sich hieran Rechte, welcher Couleur auch immer, stören, sollte nicht verwundern.

Verwickelte Konfliktlinien

Doch auch von höchster Stelle wurde die diesjährige Documenta unter Beschuss genommen. So mokierte sich sogar Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) in seiner Eröffnungsrede, dass keine israelischen Künstler*innen eingeladen wurden. Ohne es explizit zu sagen, wollte Steinmeier hier wohl die (auch Wissenschaft und Kunst umfassende) BDS-Boykott-Bewegung kritisieren – obwohl gar nicht klar ist, inwiefern deren Boykottstrategie tatsächlich von den Kurator*innen geteilt oder ausgeführt wurde. Steinmeiers Motiv für seine mäkelige, unklar argumentierende Rede liegt im Dunkeln; der Politiker selbst wurde bereits vor einigen Jahren zusammen mit Stefanie Schüler-Springorum vom Zentrum für Antisemitismusforschung von der »Bild«-Zeitung als gefährlicher Antisemit markiert. Mag er unter Druck gestanden, gehandelt und geredet haben? Verteidiger*innen des Documenta-Konzepts machten derweil geltend, dass ohnehin wenige Künstler*innen aus westlichen Ländern vertreten waren und in der Vergangenheit auch kein Aufschrei erfolgte, wenn keine palästinensischen Exponate in Kassel zu sehen waren. Die Ausstellung habe mit Antisemitismus nichts am Hut, erklärte beispielsweise Elke Buhr von der Kunstzeitung »Monopol«.

Nun tauchte in den Unweiten der Kunstausstellung allerdings dennoch ein Ausstellungsstück auf, das die berechtigte Frage aufwirft, ob hier bloss propagandistische, aber zulässige Kritik an Israel vorliegt – oder ob hier aus dem Antisemitischen geschöpft wird. Ein gigantisches Wandbild des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi, das zwischen agitatorischer Mural- und moderner Comic-Kunst changiert und eine Art Kritik der herrschenden Weltordnung darstellen soll, zeigt einen Soldaten mit Davidstern auf dem roten Halstuch und dem Schriftzug Mossad auf dem Helm. Weit skandalöser ist eine vampirhafte Gestalt mit spitzen Zähnen, die mit Schläfenlocken deutlich als orthodoxer Jude markiert ist und auf seinem typischen Hut ein SS-Zeichen trägt. Der Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, Meron Mendel, forderte die Verantwortlichen der Weltkunstausstellung in Kassel auf, diesen Beitrag des indonesischen Künstlerkollektivs wegen antisemitischer Motive zu entfernen. Auch Kulturstaatministerin Claudia Roth (Grüne) schließt sich dem Urteil an, dass es sich um antisemitische Bildsprache handele.

Die AfD im Landtag von Hessen ging interessanterweise sogar so weit, einen sofortigen Abbruch der diesjährigen Documenta zu verlangen. Die antisemitische Kunst müsse umgehend entfernt werden und Documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann zurücktreten, so der kulturpolitische Sprecher der AfD-Fraktion: »Sie hat die Verantwortung dafür zu tragen, dass auf der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst ausgerechnet in Deutschland antisemitische Bilder gezeigt werden.« Dass ausgerechnet die AfD zu einer lauten Stimme im Antisemitismus-Handgemenge geworden ist und sich hier besonders anti-antisemitisch aufspreizt, mag verstören: Für viele gilt Kritik »an jedem Antisemitismus« für links und aufklärerisch – doch weit gefehlt.

Antisemitismus vs. Rassismus

So verwies Susan Neiman jüngst im Auftakt der Ausstellung »Hijacking Memory – The Holocaust and the New Right« auf den umstrittenen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen vom 17. Mai 2017 mit dem Titel »BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen«. Die AfD hatte damals einen wesentlich schärferen Antrag eingereicht, der die Israel-Boykottbewegung sogar als »antisemitisch« verbieten wollte. Nach Ansicht Neimans, die die Konferenz mit veranstaltete, sollte diese Positionierung den berechtigten Verdacht untergraben, dass die Politik der AfD dem Neonazismus gefährlich nahe stünde. Antisemitismusgefahren kommen laut der AfD hauptsächlich von Muslimen. Neiman erklärte, dass dies eine Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs für nationalistische Zwecke darstelle, um migrantische und fortschrittliche Bewegungen anzugreifen und jüdische und palästinensische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Damit war die Stoßrichtung der Konferenz markiert, die sich dagegen verwahrte, dass »der Palästinenser« zur Leinwand unterschiedlicher Bedürfnisse wird – vom scheinbar immer berechtigten »Antisemitismusverdacht« bis hin zur Folie für »jüdische Psychodramen«. So formulierte es Tareq Baconi spitz und meinte damit, dass selbst jüdische Linke und Liberale die Autonomie des palästinensischen Kollektivs nicht ernst genug nehmen, sondern sich selbst zwischen gewünschtem (jüdischen) Universalismus und gebotenem (israelischen) Partikularismus bespiegeln würden.

Ein Vortrag von Ksenia Svetlova zur »Unheiligen Allianz« zwischen Israel und der äußersten Rechten in Europa benannte die guten Kontakte zwischen der Regierung Netanjahu zur europäischen Rechten von Gianfranco Fini über Matteo Salvini bis zu Heinz-Christian Strache. Letzterer verurteilte 2017 als »israelsolidarischer« FPÖ-Politiker und zwischenzeitlicher rechtspopulistischer Vizekanzler die von der EU beschlossene Kennzeichnung von Waren aus den israelischen Siedlungen im Westjordanland. Der rechte Likud sowie die Lobby der Siedler*innen drängen explizit auf engere Beziehungen zwischen Israel und der extremen Rechten in Europa: Beide Seiten teilen ethno-nationalistische Grundpositionen, außerdem ist Israel für die europäische Rechte faktisch ein Bündnispartner im Kampf gegen eine angebliche muslimische Überfremdung, was der Öffentlichkeit als gemeinsamer Kampf gegen den »muslimischen Antisemitismus« verkauft werden kann. Rechte sehen in Israel auch einen Statthalter westlich-abendländischer Vorherrschaft in einer feindlichen Umgebung.

Protestierende und sich wehrende Palästinenser*innen stehen schnell unter dem Generalverdacht des »Antisemitismus«, der als Produkt des Westens nun als eine Art ideologischer Sondermüll im Globalen Süden ausgekippt und entsorgt werden kann. Das Schwärmen für Israel als wehrhafter Militärstaat kann politisch korrekt der Legitimation kolonialer- oder gar siedlerkolonialer Verhältnisse dienen. Ethnisch begründete Vorherrschaft und militärische Besatzungspolitik sind international geächtet, können aber unter Bezugnahme auf das durch Antisemitismus bedrohte Israel höhere Weihen erlangen. So der Tenor der Organisator*innen der Konferenz, die sich übrigens an der »Initiative GG 5.3 Weltoffenheit« für die Wahrung der Meinungsfreiheit beteiligen. Die »Hijacking Memory«-Konferenz Anfang Juni konnte mit den Mitteln der Wissenschaft und Aufklärung nicht nur wohlfeile Antisemitismus-Anklagen, die ein anderes Interesse verfolgen, zurückweisen, sondern im Geiste grenzenlosen Universalismus und unteilbarer Menschenrechte auch die aktuelle deutsche Staatsräson irritieren.

Ein Vortrag, der in der allgemeinen Kongress-Overdose fast unterzugehen drohte, könnte nun angesichts des Documenta-Skandals eine neue Aktualität erhalten. Die linke britische Journalistin Rachel Shabi klärte über den Antisemitismus-Skandal in der Labour-Party auf. Ihre Darstellung glänzte durch Empirismus, Differenziertheit und politischem Urteilsvermögen. Shabi erklärte, dass es rechten Medien und auch der Labour-Rechten nicht hätte gelingen können, den linken Parteichef Jeremy Corbyn dermaßen mit Schmutz zu beschmeißen und über den Antisemitismusvorwurf zu demontieren, wenn nicht Corbyn selbst und die Labour-Linke dermaßen borniert auf tatsächliche Fälle von Antisemitismus reagiert hätten. Sie zeigte Beispiele von ekelerregender antisemitischer Bildsprache – aussaugende Davidsterne, hakennasige Verschwörungseliten – die von Labour-Mitgliedern online verbreitet wurden und auf Facebook und anderswo viral gingen. Dies klar und eindeutig zu verurteilen und zu unterbinden hätte Corbyn, der selbst allerdings absolut kein Antisemit sei, verpasst.

Auseinandersetzung hilft

Angesichts des aktuellen Documenta-Streits wünscht man sich Künstler*innen des Globalen Südens und Nordens, die etwa Ruangrupa fragen, ob sie davon ausgegangen seien, dass es keine israelischen Künstler*innen gibt, die das Konzept der 15. Documenta – einen wilden Gaben-»Potlach« – hätte bereichern können. Und natürlich muss das weitgehend simplizistische Propagandamural mit den antisemitischen Bildkomponenten auf seinen Inhalt und Sinn hin befragt werden. Antisemitismus ist in Indonesien seit Langem weit verbreitet, er schöpft aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Quellen und kann sich auch in eine verquere globale Kapitalismuskritik hineinschmuggeln. Insofern er nicht zur irreversiblen Weltanschauung und Ideologie geronnen ist, kann ihm durchaus mit Aufklärung, Diskussion und klärendem Streit begegnet werden. Dies sollten sich Gegner*innen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf die Fahnen schreiben, in diesem Fall die Verantwortlichen der Documenta. Und wenn Vertreter*innen rassistischer und nationalistischer Ausschlusslogik als Anti-Antisemiten auftreten, mag dies für einige wie eine amüsante Kunstperformance erscheinen, politisch sollte einem solchen »Hijacking« allerdings ein Ende bereitet werden.