Borne fehlt es an Vertrauen

Frankreichs Premierministerin will mit wechselnden Mehrheiten regieren

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Die Vertrauensfrage sparte sie sich: Dieses übliche Vorgehen ließ Frankreichs Premierministerin Elisabeth Borne bei ihrer Regierungserklärung vor den beiden Parlamentskammern unter den Tisch fallen. Seit der Parlamentswahl vom Juni verfügt das Regierungslager nicht mehr über die absolute Mehrheit; eine Abstimmungsniederlage war also voraussehbar. Die Allianz der linken Parteien Nupes, die dieses »Ausweichen« als »Provokation« und als »Affront gegen die Volksvertretung und damit alle Bürger« bezeichnete, hatte kurz vor der Regierungserklärung einen Misstrauensantrag eingereicht. Über den wird aber frühestens bei der nächsten Sitzung am kommenden Montag abgestimmt. Da sich weder die rechtsbürgerliche noch die rechtsextreme Opposition anschließen wollen, ist bereits klar, dass der Misstrauensantrag ohne Wirkung bleibt.

In der Geschichte der 1958 entstandenen Fünften Republik hat nur einmal ein Misstrauensantrag eine Regierung zum Rücktritt gezwungen – 1962 die von Premier Georges Pompidou. Im Zusammenhang mit den 18 Regierungserklärungen, die seit 1958 abgegeben wurden, ist nur viermal die Vertrauensfrage nicht gestellt worden. So musste der sozialdemokratische Präsident François Mitterrand in seiner zweiten Amtszeit 1988-1995 zeitweise mit einer relativen Mehrheit regieren, doch fehlten ihm bei Abstimmungen nur einige wenige Stimmen, die sein Premier Michel Rocard meist bei der linken Opposition fand. Dagegen verfügt jetzt die in Renaissance umbenannte Bewegung des Präsidenten Emmanuel Macron in der Nationalversammlung nur über 172 Sitze. Selbst zusammen mit den Abgeordneten ihrer Partner von der Zentrumspartei Modem und der neuen Mitte-Rechts-Partei Horizons sind es nur 250, während für die absolute Mehrheit 289 Stimmen nötig sind.

Angesichts dieser Kräfteverhältnisse und da weder die rechtsbürgerliche noch die rechtsextreme oder gar die linke Opposition bereit sind, eine Koalition mit dem Regierungslager einzugehen, rief Premierministerin Borne zu »politischen Kompromissen« und zu »Fall-zu-Fall-Mehrheiten« auf. Es gelte, ein für Frankreich neues Modell zu schaffen und – wie es die Bürger erwarten – in konstruktiver Zusammenarbeit gemeinsam die Probleme zu lösen, vor denen das Land steht. Elisabeth Borne versicherte, die Regierung sei bereit, Vorschläge aus den Reihen der Opposition anzuhören, zu diskutieren und ihre Vorhaben anzupassen, vorausgesetzt, man teile wesentliche Ziele und Werte.

Im zweiten Teil ihrer Regierungserklärung legte die Premierministerin die nächsten Vorhaben dar, die – näher betrachtet – weitgehend mit dem Programm von Emmanuel Macron im jüngsten Präsidentschaftswahlkampf identisch sind. Zu den geplanten wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Reformen zählt auch die umstrittene Rentenreform, an der die Regierung festhält, auch wenn sie sich jetzt nicht auf das ursprünglich geplante Rentenalter von 65 Jahren festlegen will. Zur Stärkung der Kaufkraft der Löhne und Renten angesichts der aktuellen Rohstoff- und Energiekrise kündigte sie an, dass die Deckelung der Energietarife zunächst bis Jahresende bestehen bleibt, ebenso wie der Rabatt von 18 Cent pro Liter Treibstoff.

Im September werden die ärmsten Haushalte vom Staat einen Scheck für Lebensmittelkäufe erhalten und im Oktober bekommen einkommensschwache Berufspendler einen Scheck für die Treibstoffmehrkosten. Löhne, Renten und Sozialleistungen würden erhöht und es gebe keine Steuererhöhungen, versicherte die Regierungschefin. Die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und die Reindustrialisierung des Landes solle gefördert werden, um Wirtschaftswachstum, neue Arbeitsplätze und Vollbeschäftigung zu erreichen.

Um die Klimakrise zu meistern, werde die Nutzung fossiler Energieträger weiter reduziert und der Anteil erneuerbarer Energien ausgebaut. Dazu zählte Borne auch die Atomkraft: Sie kündigte den Bau neuer Kernkraftwerke an. Um die nicht zuletzt durch den Krieg in der Ukraine verschärften Energieprobleme zu meistern, wird der Staat seinen Anteil am Energiekonzern Electricité de France (EDF), der Eigentümer aller Kernkraftwerke des Landes ist und auch bei der Entwicklung der erneuerbaren Energien eine führende Rolle spielt, von heute knapp 84 wieder auf 100 Prozent erhöhen.

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