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  • Animationsfilm "Rotzbub"

Bunt und fleckig

Eine Welt wie aus einem Song von Ludwig Hirsch. Oder eben einer Karikatur von Manfred Deix: »Rotzbub« – ein Animationsfilm über neonazistisches Treiben

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 6 Min.
Deixens Karikaturen und Cartoons bekommen in »Rotzbub« Räumlichkeit, Bewegung und Stimme.
Deixens Karikaturen und Cartoons bekommen in »Rotzbub« Räumlichkeit, Bewegung und Stimme.

»Es gibt keinen größeren Psychoanalytiker der österreichischen Seele als den Manfred Deix«, sprach Billy Wilder einst, und was er damit meinte, weiß man spätestens jetzt. Deix wuchs im tiefsten Niederösterreich auf, wo seine Eltern das Gasthaus »Zur blauen Weintraube« betrieben. Sein Talent ließ sich nicht lange verstecken, zumal der mächtigste Motor der Kunst hinzukam: Geilheit. Er selbst sagte einmal, dass es ihm im Grunde nie um etwas anderes gegangen sei als um die Frauen. Sein erstes bekanntes Werk war ein Daumenkino, das eine sich entblätternde Dame zeigte. Der junge Manfred vertickte seine Bilder in Boheimkirchen, wenn er nicht hinter dem Tresen der »Blauen Weintraube« stand. Auch diesen Einfluss sollte man nicht gering schätzen. Die Gastronomie ist ein Ort, der jungen Menschen gestattet, das Leben zu studieren, ehe sie es kennen. An dem, Begabung vorausgesetzt, Dichter, Regisseure oder eben Maler entstehen, denn gewisse Erfahrungen können später kaum noch nachgeholt werden.

»Rotzbub« (oder »Willkommen in Siegheilkirchen«, wie der Film ursprünglich und schöner hieß) ist ein Biopic über Manfred Deix. Und eigentlich auch von Manfred Deix, denn die Story dieses Films hatte der 2016 verstorbene Karikaturist noch selbst entworfen, und natürlich ist die Animation ganz im Deix-Stil gehalten: klare Linien, exuberante Körper, bizarre Gesichter, die latente Begierde verraten, helle Landschaft, Unmengen an Farben, aber schwach gesättigt, eine Ästhetik des Schmuddeligen, bunt und fleckig, die aristophanisch bildhaft macht, wie sauwohl sich Menschen fühlen können. Deixens Karikaturen und Cartoons bekommen in »Rotzbub« Räumlichkeit, Bewegung und Stimme. Potenziert zudem durch eine dynamische Kamera, die intensiv mit Schwenks und Kreiseln, Zooms und Fahrten arbeitet. Gewissermaßen lässt dieser Film den Künstler von den Toten auferstehen.

Vor unseren Augen tut sich Siegheilkirchen auf. Ein kleines (natürlich erfundenes) Dorf im (leider nicht erfundenen) Niederösterreich der 60er Jahre – eine Welt wie aus einem Song von Ludwig Hirsch. Oder eben einer Karikatur von Manfred Deix. Entsprechend sind die Leute hier drauf. Die Grenzen ihrer Welt sind die Grenzen ihres Denkens. Je hügliger die Landschaft, desto flacher die Charaktere. Kennt man ja. Der Pfarrer des Ortes ist ein kleinlicher Tyrann, die Frau des Bürgermeisters eine prüde Gouvernante, der Friseur ein Nazi, der stets betrunkene Dorfpolizist sein Kumpel vom Stammtisch. Der Wirt hat nur noch einen Arm, doch dafür einen Sohn. Den alle bloß Rotzbub nennen. Als dessen Onkel, ein akademischer Kunstmaler, den Auftrag erhält, die Fassade des Rathauses, auf der noch immer das halb abgewaschene Hakenkreuz zu sehen ist, geschichtsträchtig neu zu gestalten, nimmt er den begabten Neffen in die Lehre. Bei dem aber sind Kunst und Sex nicht zu trennen. Er ist besessen vom üppigen Körper der Metzgergehilfin Trude, die vor einer Weile ins Dorf gezogen ist, und verliebt sich in die burschikose Mariolina, die als Roma am Rand der Siedlung wohnt und von der braunen Bande um den Friseur aus dem Wirtshaus vertrieben wird. Rotzbubs Freund Wimmerl verkauft dessen Werke im Ort, wo sie sich bald als Wichsvorlage großer Beliebtheit erfreuen. Kurzum: Siegheilkirchen spiegelt so ziemlich, was in Boheimkirchen passierte. Auch das Daumenkino kommt vor.

Kongenial ist das alles, weil es die große Botschaft von Deix fortschreibt: Selbst im Mief der österreichischen Provinz, zwischen stinkenden Altnazis, postnazistischen Drecksäcken und katholischen Pharisäern, ist es eine Lust zu leben. Es gibt Sex, es gibt Humor, es gibt Liebe – nicht nur in den Fluchtpunkten der Kunst, auch real, als Parallelgesellschaft. Hierfür steht die Siedlung der Roma, in der Mariolina mit ihrer Mutter Natascha lebt, ebenso wie die Bar Jessy, in der »jeder bedient wird« und eine Jukebox mit amerikanischem Rock und Pop ein wenig Kultur in die Provinz bringt. Hier lernt Rotzbub den Widerstand gegen die etablierte Gesellschaft. Hier lernt er, dass nicht automatisch die Mehrheit bestimmt, was anständig ist und was nicht.

Die Psychoanalyse, von der Billy Wilder sprach, finden wir bereits in der ersten Szene etabliert. Der Rotzbub im Mutterleib übt schon mal Rebellentum und Rock’n’Roll. Erst drückt er sich die Nabelschnur ab, um zu sehen, was passiert – er läuft blau an –, dann stemmt er sich gegen die Presswehen. Die Geburt als Urkatastrophe jeder Biografie, weil der Mensch mit ihr sein ozeanisches Gefühl verliert, ist schon von Freud beschrieben worden. Der Todestrieb mithin als unbewusstes Streben, in den intrauterinen Zustand zurückzukehren. Auch das Stillen als erste Besänftigung passt hier ganz in das Schema. Das Rotzbub-Baby wird an der Brust seiner Mutter subtil sexualisiert – man sieht in seinem Gesicht, dass es hier nicht bloß um Nahrungsaufnahme geht. Die Hebamme kommentiert das Geschehen mit den Worten: »Dee Mannsbilder san eh oalle gleych.« Die Komik dieser Szene liegt darin, dass die Lust des Babys an der mütterlichen Brust an die Sexualität des Mannes erinnert, obgleich es sich tatsächlich umgekehrt verhält: Die Lust des Mannes an der weiblichen Brust lässt sich aus der frühen Sexualität des Kindes ableiten, die er, anders als die Frau in diesem heteronormativen Umfeld, auch später noch ausleben darf.

Schönheit liegt bei Deix in mütterlicher Üppigkeit. Rotzbub liebt Mariolina, aber er begehrt Trude. Das eine muss das andere nicht ausschließen. In den sexuellen Idealen der Antike wie auch des Barocks – Wimmerl nennt Rotzbub übrigens den »Rubens von Siegheilkirchen« – war Schlankheit nicht so dominant wie heute. Dieses alte, naturläufige Ideal wurde erst im Fortgang der Neuzeit durch gesellschaftliche Norm erstickt. Schlankheit bezeigt Sportlichkeit, Askese, Tüchtigkeit am Arbeitsmarkt. Wenigstens wusste Marx noch, dass der Bauch in den naturwüchsigen Gesellschaften »als Organ des akkumulierten Eigentums gilt«. Dicksein war das Ideal des Reichtums, der Lust, des Genusses. Die Dominanz des Schlanken in der Sexualität ist Ausdruck einer Gesellschaft, in der der Mensch zuerst als Arbeitskraft und nicht zuerst als Konsument verstanden, in der Produktivität über Genuss gestellt wird.

Und zugleich stehen diese Deix-Körper mit ihren übergroßen Brüsten, Bäuchen, Beinen und Hinterteilen politisch für den Ausbruch von Talent und Eigensinn aus dem viel zu engen Umfeld. Eine Figur von Deix ist wie ein Glas Cola, das zu schnell gefüllt wurde und überläuft. Und dieser Moment als Dauerzustand festgehalten in der körperlichen Gestalt, das ist, als friere man den Akt der Befreiung ein. Im Finale des Films wird das Ganze subversiv, indem Rotzbub durch seinen Einsatz den offiziellen Vorgang der Traditionspflege vereitelt. Wo das Dorf sich an der Wand des Rathauses ein zwar bereinigtes, doch altvorderlich-ehrwürdiges Selbstbild geben wollte, malt der Junge über Nacht seine Deix-haften Karikaturen an die hohe Fassade. Man ist schockiert. Pornografische Karikatur statt Historienmalerei. Mit dieser Szene sagt der Künstler uns etwas. Der miefende Hinterwald wird aussterben. Die maliziösen Karikaturen des Künstlers, den dieses Umfeld geprägt und ohne Absicht mithervorgebracht hat, sind vielleicht alles, was von diesem Umfeld bleiben wird.

»Rotzbub«: Österreich, Deutschland 2022. Regie: Marcus H. Rosenmüller, Santiago López Jover; Drehbuch: Martin Ambrosch. Mit: Markus Freistätter, Gerti Drassl, Mario Canedo. 85 Minuten. Jetzt im Kino.

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