Meisterin des Moments

Die Berlinische Galerie zeigt eine Retrospektive der Ostberliner Fotografin Sibylle Bergemann

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Sibylle Bergemann, "Birgit", Berlin 1984
Sibylle Bergemann, "Birgit", Berlin 1984

Menschen zu fotografieren sei anfangs nicht so ihre Sache gewesen, hat Sibylle Bergemann einmal erzählt. Die Scheu hat sie später überwunden, wie man vor allem an den Künstlerinnenporträts im Rahmen der Ausstellung »Sibylle Bergemann. Stadt – Land – Hund« in der Berlinischen Galerie sehen kann. Nina und Eva-Maria Hagen fängt sie Wange an Wange ein. Mutter Eva-Maria blickt offen, aber auch etwas skeptisch in die Kamera. Die damals 21-jährige Nina hingegen wirkt kindhaft und keck, ganz so wie sie als junge Sängerin auch auf der Bühne zu erleben war. Das Foto entstand ein Jahr vor der Ausbürgerung Eva-Maria Hagens und der Ausreise von Mutter und Tochter in den Westen. Natürlich ist man versucht, die Gedanken hinter beider Stirnen zu lesen. Aufgenommen wurde das Foto schließlich im Jahr der Ausbürgerung von Wolf Biermann. Ab diesem Zeitpunkt war vieles anders in der Künstlerszene der DDR.

Angelica Domröse, den wohl größten weiblichen Schauspielstar der DDR, fängt Bergemann in sehr nachdenklicher Haltung ein. Der Blick geht zur Seite aus dem Bild, der Mund ist durch die Hand verdeckt. Später gehört Meret Becker zu den Modellen der Fotografin. Vor allem aber ist immer wieder Tochter Frieda zu sehen, in oft avantgardistische Mode gekleidet, die in schrillem Kontrast steht entweder zur bröckelnden, noch von Kriegsschäden gezeichneten Altbauarchitektur der DDR oder den maschinellen Segmenten trister Neubauanlagen.

Ihre Meisterschaft offenbart die 1941 in Berlin geborene und 2010 auf dem Land in Brandenburg gestorbene Künstlerin jedoch in atmosphärischen Aufnahmen von Alltagssituationen. Da tauchen zwar auch oft Menschen auf. Wenn sie ins Bild kommen, sind sie aber eingebettet in eine Landschaft oder in städtisches Leben, verschmelzen förmlich mit der Umgebung. Bergemann gelingen fast zeitlose Aufnahmen, wie etwa die von 1972 aus einer Straßenbahn in Berlin-Schöneweide aussteigenden und zur Arbeit eilenden Arbeiter und Angestellten. Wie ein Magnet scheint das Werkstor die etwa zwei Dutzend Personen anzuziehen. Eher versonnen blickt hingegen auf einem anderen, möglicherweise an einem Nachmittag aufgenommenen Bild ein Mann aus dem letzten Wagen einer Straßenbahn heraus. Es scheint, als habe er die Kamera entdeckt, die ihn fokussiert. Mehr als zurückschauen kann er aber nicht, so eingeschlossen, wie er in diesem Verkehrsmittel ist.

Vor allem in Fotoserien, die Bergemann nicht selten in Zusammenarbeit mit der Reporterin Jutta Voigt erstellte, wird das Gefühl der Künstlerin für den Moment sichtbar. In der Reihe »Clärchens Ballhaus« etwa, entstanden 1976, fängt sie einen Mann ein, der allein an einem Tisch seine Mahlzeit verzehrt. Die Fliege sitzt etwas schief, Messer und Gabel sind schräg in die Luft gehalten; man sieht ihm die Hoffnung an, an diesem Abend noch jemanden kennenzulernen. Zugleich haben die Enttäuschungen erfolgloser Abende Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. In der gleichen Serie begegnete man einer Frau, erschöpft an einem Tisch sitzend, die Beine verschränkt, den Kopf in eine Hand gelegt. Auf anderen Bildern tanzen Menschen, auf einem Foto wiederum finden Hände von Liebenden zart zueinander.

Bergemanns eindrücklichste Serie dürfte die anlässlich der Fertigstellung des Marx-Engels-Denkmals in Berlin sein. Die Fotografin dokumentiert mehrere Bauphasen. Auf einem Bild sind die Skulpturen in helle Planen gehüllt; es scheint, als sei hier bereits der französische Verhüllungskünstler Christo am Werk gewesen. Ein anderes Mal ist über die beiden Figuren der Klassiker des Marxismus ein dunkles Tuch gebreitet, gleich einer Burka. Dann wieder ist ein Holzgerüst zu sehen, auf einem anderen Foto lediglich ein Bein oder Knie. Schließlich schwebt, an einem Kranhaken hängend, Engels durch die Luft. Hier begleitete Bergemann die Errichtung eines Denkmals – nach 1990 wurde sie aber auch Zeugin von Abbau, so bei der Schleifung des Palasts der Republik oder beim Abriss des DDR-Außenministeriums in Berlin.

Die Fotos sind allesamt schwarz-weiß. Erst spät sattelte Bergemann auf Farbe um. Das lag gewiss auch an der geringeren Qualität des Orwo-Farbmaterials in der DDR.

Bei ihren späten Reisefotografien beeindrucken vor allem Serien aus dem Senegal und aus Jemen. Beim Betrachten ihrer Bilder aus der mittlerweile zum Unesco-Weltkulturerbe erhobenen jemenitischen Stadt Schibam fragt man sich bang, wie es dort jetzt angesichts von Krieg und Hungersnot zugehen mag. Fasziniert lässt man sich in eine lebhafte Straßenszene in Dakar hineinziehen: Gemüsehändler preisen ihre Waren an, moderne Geschäftsleute tun es ihnen mit anderen Methoden gleich, Pferdewagen und Autos treffen aufeinander. Diese Motive mögen kitschisch wirken, sie spielen jedoch mit den Klischees von Tradition und Moderne, an denen sich Touristen gern ergötzen.

Bergemann weiß, wovon sie berichtet, denn auch ihre Fotografien aus Ostberlin fingen Altes und Neues ein, Verfall und Neugeburt. So vereint eines ihrer Fotos, das eine Droschke unter der Hochbahnstrecke in Prenzlauer Berg zeigt, an der in großen Lettern Werbung für das »Neue Deutschland« angebracht war, Verkehr aus der Zeit vor der Erfindung des Automobils mit dem motorisierten Zeitalter.

Es ist gut, dass nach den Retrospektiven anderer wichtiger Fotografinnen und Fotografen der DDR, unter anderem Roger Melis, Harald Hauswald sowie Ute und Werner Mahler, nun auch Sibylle Bergemann hier großflächig gezeigt wird. Das Interesse an einem Land, das nicht mehr ist, wächst wieder. Zudem bezeugen ihre Arbeiten aus fünf Jahrzehnten auch, dass Sibylle Bergemann mehr war als »nur« eine DDR-Fotografin.

»Sibylle Bergemann. Stadt – Land – Hund«, bis 10. Oktober, Berlinische Galerie, Alte Jakobstr. 124-128, 10969 Berlin; Mi bis Mo 10 bis 18 Uhr,
Di geschlossen, Tageskarte: 10 €.

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