• Politik
  • Kurdische Selbstverwaltung

Demokratischer Hoffnungsschimmer

Die kurdische Autonomie in Nordsyrien hat mit einem Aufstand in Kobane begonnen

  • Christopher Wimmer und Elisabeth Olfermann, Nordsyrien
  • Lesedauer: 8 Min.

Vor genau zehn Jahren, in der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012, übernahmen bewaffnete kurdische Einheiten die Kontrolle über die Straßen, die in und aus der nordsyrischen Stadt Kobane führten. Gleichzeitig begannen Aufständische aus der Stadt, alle staatlichen Einrichtungen in der Stadt zu belagern und zu erobern. Schließlich versammelte sich eine Menschenmenge vor dem Stützpunkt der syrischen Armee. Eine Delegation verhandelte mit den Militärs. Die kurdische Seite bot gegen Abgabe der Waffen sicheres Geleit an. Angesichts der Ausweglosigkeit willigten die Soldaten ein und zogen ab.

In dieser Zeit grassierte in Kobane und Syrien bereits seit über einem Jahr der blutige Bürgerkrieg, und es war nicht abzusehen, was dieser Aufstand bedeuten würde. Im Rückblick gilt der Tag jedoch als Beginn der kurdisch dominierten »Rojava Revolution« in Nordsyrien, die noch immer anhält.

Pervin Yusif war als junge Frau in der kurdischen Frauenorganisation Kongra Star aktiv und erinnert sich an die Geschehnisse. Sie berichtet, wie es zur Revolution gekommen ist: »Damals war es für uns Kurden sehr schwierig. Vor der Revolution wurden wir vom syrischen Regime unterdrückt. Wir durften keine eigenen Häuser bauen und unsere Kinder durften in den Schulen nicht Kurdisch lernen. Daher begannen wir uns zu organisieren: für die Freiheit, für unsere Identität und dafür, unsere eigene Sprache zu sprechen.« Heute ist Yusif die Co-Vorsitzende des Kantons Cizre im äußersten Nordostens Syriens – vergleichbar einer Ministerpräsidentin. In einer Ecke ihres Büros mit Blick über die Großstadt Qamislo stehen die grün-rot-gelbe Flagge Rojavas sowie eine gelb-blaue Flagge. Hierbei handelt es sich um die »Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien«, wie die Selbstverwaltung des Gebiets sich offiziell nennt. Sie ist die Erbin der Rojava-Revolution und basiert auf direkter Demokratie, Geschlechtergleichheit und Ökologie. Alle Positionen werden paritätisch mit einem Mann und einer Frau besetzt.

Dies wird seit Beginn der Revolution so gehandhabt. Für Yusif selbst war es allerdings vor zehn Jahren noch keineswegs klar, welchen Verlauf die Ereignisse nehmen würden. Erste Erfolge zeichneten sich jedoch bereits in den nächsten Tagen ab: Von Kobane aus breitete sich die Revolution auf andere Städte in Nordsyrien aus. Bereits am 21. Juli 2012 war der gesamte Kanton Cizre unter Kontrolle der Aufständischen. Dabei kam es zu keiner größeren militärischen Auseinandersetzung, da sich die syrische Armee des Machthabers Assad ohne nennenswerten Widerstand zurückzog. Yusif erinnert sich: Militäreinrichtungen wurden eingekesselt und die wenigen verbleibenden Truppen des syrischen Regimes aufgefordert, sich zu ergeben. Embleme des Staats wurden von Polizeigebäuden entfernt, wichtige Akten beschlagnahmt und politische Gefangene befreit.

Schnell gründeten sich in der Bevölkerung Räte, die das öffentliche Leben selbstverwaltet weiterführten. Zu ihren Aufgaben gehörte die Verteilung von Lebensmitteln und Kraftstoff ebenso wie die Organisation von Erziehung und Bildung, Selbstverteidigung und der Aufbau einer unabhängigen Justiz. Die noch bestehende Infrastruktur wie Wasserversorgung und Müllabfuhr wurde weitergeführt und geschützt. Bislang abgeriegelte staatliche Gebäude wurden in Volkshäuser, Kulturzentren und Bildungseinrichtungen umgewandelt. Innerhalb weniger Monate war ein funktionierendes Rätesystem entstanden – das im Wesentlichen auf Ideen der Selbstregierung beruht.

Pervin Yusif berichtet weiter, dass es eine Selbstorganisation in der kurdischen Bevölkerung schon vor der Revolution gab. »Trotz staatlicher Repressionen konnte die Revolution auf bestehenden Organisationen aufbauen. Die Bevölkerung hatte schon zuvor klandestin begonnen, ihre politischen Strukturen zu errichten.« Bereits 2003 wurde so die Partei der Demokratischen Union PYD als syrische Schwesterpartei der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei PKK gegründet. Sie ist bis heute die alles entscheidende Partei in der Region. Deutlich wird dies in unzähligen Zitaten und Plakaten des PKK-Gründers Abdullah Öcalan, die in ganz Nord- und Ostsyrien allgegenwärtig sind – so auch im Büro von Pervin Yusif. Gleichzeitig legt die Selbstverwaltung Wert darauf, unabhängig von der PKK zu sein. Öcalan – diesen Satz hört man häufig – sei schließlich ein Symbol für die gesamte kurdische Bevölkerung und Freiheitsbewegung.

Die Selbstverwaltung basiert auf dem Konzept einer »demokratischen Nation«, das Öcalan, der sich seit 1999 in türkischer Isolationshaft befindet, entwickelt hat. Das politische Ziel der Verwaltung ist kein eigener kurdischer Nationalstaat, sondern die basisdemokratische Selbstverwaltung aller Bewohner*innen Nord- und Ostsyriens. Dies betont auch Berivan Khaled. Sie ist Co-Vorsitzende des Exekutivrats, der die Arbeit verschiedener Kommissionen etwa zu Gesundheit, Natur oder Wirtschaft in den autonomen Regionen koordiniert. Sie verweist direkt auf Öcalan: »Die Verwaltung stützt sich auf das Prinzip der demokratischen Nation, was bedeutet, dass die Rechte aller geschützt werden müssen, einschließlich der Kurden, Araber, Syrer, Turkmenen und Tscherkessen.« Grundsätzlich soll es Mitbestimmung und Mitsprache für alle Kulturen und Ethnien ohne staatliche Bevormundung geben.

Für eine multiethnische Region scheint dies ein passendes System zu sein. Nachdem sich zwei Jahre nach der Revolution die drei kurdisch geprägten Kantone Cizre, Kobane und Afrin als autonom erklärt hatten und der »Islamische Staat« (IS) vertrieben wurde, hat sich die Selbstverwaltung auf überwiegend arabische Städte wie Manbidsch, Tabqa, ar-Raqqa und Deir ez-Zor ausgebreitet. Mit Kurdisch, Arabisch und Aramäisch gibt es in diesen Gebieten offiziell drei Amtssprachen. Khaled kommt fast ins Schwärmen, als sie erzählt, »wie reich die Gesellschaft im Nordosten Syriens an verschiedenen Gruppen und Glaubensrichtungen« sei. »Alle Gruppen bilden einen Mosaikstein in der Gesellschaft.« Einig sind sich Pervin Yusif und Berivan Khaled darin, dass die meisten Menschen der Region die Selbstverwaltung auch als ihr persönliches Projekt verstehen. Zwar gebe es noch viele ungelöste Probleme, doch die Unterstützung für das Vorhaben sei weiterhin groß, sagen sie.

Aber es gibt auch andere Stimmen. Viele Menschen haben bereits das Land verlassen, weitere wollen es ihnen gleichtun. Auf dem zentralen Markt in Qamislo berichten Einzelhändler*innen und Selbstständige von ihrem Vorhaben nach Europa zu gehen. Ihre Namen wollen sie jedoch nicht in der Zeitung lesen. Auch eine Angestellte der Stadtverwaltung der rund 80 Kilometer östlich gelegenen Kleinstadt Derik möchte anonym bleiben. Sie sagt: »Hier gibt es schon so lange Krieg. Ich will einfach nur genügend zu essen, ausreichend Strom und eine gute Ausbildung für meine Kinder.«

Unter diesen grundlegenden Mängeln leidet ein Großteil der Bevölkerung in der Region. Teilweise scheinen die Probleme selbst verschuldet zu sein. Denn der dominierende Einfluss der PYD mit dem Anspruch auf basisdemokratische Selbstverwaltung führt an manchen Stellen zu übermäßiger Bürokratie und Ineffizienz – teilweise auch zu Korruption. Hinzu kommt die verheerende humanitäre Lage durch äußere Bedingungen. Die Inflation grassiert, Lebensmittel sind knapp, die Ölpreise steigen. Regelmäßige Dürren führen zu Ernteausfällen in der ehemaligen Kornkammer Syriens sowie zu Wassermangel. Zudem droht die Türkei permanent mit Krieg, weil sie in der Selbstverwaltung einen Ableger der PKK vermutet und daher ihre »Sicherheitsinteressen« gefährdet sieht.

Bereits dreimal marschierte das Nato-Mitglied völkerrechtswidrig in Syrien ein: 2016 hatte die Türkei das Gebiet nördlich von Aleppo erobert, 2018 folgte Afrin, 2019 ein über 1000 Quadratkilometer großer Streifen zwischen den Städten Sere Kaniye und Gire Spi. Mehr als 200 000 Zivilist*innen wurden vertrieben, über 450 getötet. Auf diese Besatzungen folgte die Ansiedlung islamistischer Söldnertruppen sowie syrischer Geflüchteter aus der Türkei, um den kurdischen Einfluss zurückzudrängen. Tatsächlich verändert dieser Umsiedlungsprozess die Bevölkerungsstruktur Nordsyriens mittlerweile deutlich.

Auch wenn es bedeutenden Teilen der Bevölkerung in Nord- und Ostsyrien vor dem Bürgerkrieg und der Revolution wirtschaftlich besser ging, besteht doch überwiegend Einigkeit darin, dass sich unter der Selbstverwaltung vieles zum Positiven gewandelt hat. Tief im Bewusstsein verankert ist noch immer, dass es die kurdisch dominierten Einheiten waren, die maßgeblich an der Befreiung der Region vom IS beteiligt waren. Die Fortschritte bei der Gleichberechtigung sind auch unbestritten. Die 28-jährige Ahin Musa stammt aus der Kleinstadt Amude und arbeitet seit drei Jahren als Übersetzerin und Journalistin in Qamislo. Sie macht deutlich, dass Befreiung der Frauen ein zentraler Bestandteil der Revolution war. Dieser Prozess ist, so Musa, längst noch nicht abgeschlossen: »Wenn man als Frau in einer Medieninstitution arbeitet, muss man kämpfen. Es gibt immer noch vor allem stark religiös geprägte Männer, die bei Interviews nicht mit Frauen sprechen wollen. Aber das wird langsam besser und einfacher. Es gibt hier einen gesellschaftlichen Wandel, den alle sehen können.«

Doch für die Zukunft der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien bleibt offen, was wichtiger ist: Die Fortschritte in den Bereichen kulturelle Anerkennung, Geschlechtergerechtigkeit und Mitbestimmung, von denen Pervin Yusif, Berivan Khaled und Musa berichten, oder die Behebung der massiven alltäglichen Probleme, von denen auf der Straße gesprochen wird. Zweifellos braucht die Region dringend Investitionen in die Infrastruktur und in die Erdölverarbeitung, die Haupteinnahmequelle für die Verwaltung. Die sind aber nicht in Sicht. Dagegen gibt es weiterhin Auseinandersetzungen mit der Türkei und ein internationales Embargo gegen die Region, sodass es schwierig ist, die autonomen Gebiete zu entwickeln. Zugleich bestehen aber die gesellschaftlichen Errungenschaften der Revolution fort. Trotz aller Probleme gibt es eine Kontinuität.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal