Die Tour de France der Frauen als Versuchslabor

Am Sonntag starteten die Radsportlerinnen zu ihrer ersten Frankreichrundfahrt seit langem

  • Tom Mustroph, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.
Weltmeisterin Elisa Balsamo ist eine der Gejagten bei der Tour de France.
Weltmeisterin Elisa Balsamo ist eine der Gejagten bei der Tour de France.

Groß angekündigt war die Tour de France der Frauen, die Teilnehmerinnen freuten sich auch mächtig. »Es ist ein spezieller Moment. Die Tour de France ist größer als ein normales Radrennen«, sagte etwa die dreimalige Weltmeisterin Marianne Vos vor dem Start der ersten Etappe. Doch das Publikum war bei den ersten Runden auf den Champs Élysées nur sehr spärlich an der Strecke. Auf den VIP-Tribünen wandte man sich mehr den Häppchen zu, als den Blick auf das berühmte Pflaster von Paris zu richten. Ein wenig fühlte man sich an Schilderungen der großen Jeannie Longo erinnert. Sie gewann in den 1980er Jahren gleich dreimal die damalige Tour de France feminin. Die ging noch über 15 Etappen und einen Prolog und wurde jeweils am Mittag und frühen Nachmittag auf den gleichen Straßen ausgetragen wie später die Etappen der Männer.

Große Frankreichrundfahrten für Frauen gab es bereits einige, 1955 als Pionierrennen das Leulliot Race. Von 1984 bis 1989 organisierte sogar die Aso eine Tour der Frauen, eben die, bei der Longo fuhr. In den 1990er Jahren gab es die Tour Cycliste Feminine, die später Grande Boucle Feminine genannt wurde. Auch die ging über mehr als zwei Wochen. Nach der Jahrhundertwende gab es ebenfalls hochklassige Etappenrennen für Radsportlerinnen in Frankreich. Ina-Yoko Teutenberg, jetzt als sportliche Leiterin beim Frauenteam von Trek Segafredo bei der aktuellen Tour dabei, erinnert sich noch gut an die Route de France, die es von 2006 bis 2016 gab. »Sportlich war es ein gutes Rennen. Da wird auch die Tour de France kaum anders sein. Jetzt bei der Tour ist aber der Hype viel größer«, meinte sie zu »nd«.

Den Hype braucht der Frauenradsport auch für weitere Entwicklungsschritte. Das Wachstum wurde bisher vor allem durch mangelnde Fernsehübertragungen gebremst. Kein Fernsehen, kein Massenpublikum, keine Sponsoren, kein Geld für neue Rennen und Gehälter in den Rennställen, lautete lange Zeit die Stagnationsgleichung. Das änderte sich erst, als die großen Klassikerveranstalter Frauenrennen ausrichteten, mal am gleichen Tag wie die Männerrennen, mal einen Tag zuvor. Auch Tourorganisator Aso stieg nach mehr als drei Jahrzehnten Pause wieder in den Frauenradsport ein und richtete 2014 erstmals La Course aus. Es handelte sich um ein Eintagesrennen am letzten Tag des Männerrennens. Es war vor allem ein Versuchslabor. 2017 wurde eine Art Jagdrennen ausprobiert, mit einer Bergetappe in den Alpen und einem Zeitfahren.

All das wurde als Fortschritt begrüßt, zugleich waren viele Athletinnen aber nicht glücklich. »Wir wollen ein echtes Etappenrennen«, forderte etwa Vos immer wieder. Fast ein Jahrzehnt später sind ihre Wünsche und die der Kolleginnen endlich erfüllt. Die Tour de France startete am Sonntag als achttägiges Etappenrennen mit vier Flachetappen, zwei bergigen Etappen und zwei echten Bergetappen. Das Finale wird auf der Planche des Belles Filles ausgefochten, dort, wo vor zwei Wochen noch Tadej Pogačar als großer Favorit gewann und unbesiegbar schien.

Diese Rolle nimmt bei den Frauen Seriensiegerin Annemiek van Vleuten ein. An der Niederländerin, die vor zwei Wochen den Giro der Frauen gewann, orientiert sich die Konkurrenz. Bevor sie sich in Szene setzt, gehört das Feld aber den Sprinterinnen. Interessante Kandidatin ist Weltmeisterin Elisa Balsamo. Sie gewann in diesem Jahr den Sprintklassiker Gent – Wevelgem, war zweimal beim Giro die schnellste und wurde in der Punktwertung nur knapp von van Vleuten abgefangen. Zum Auftakt kam ihr und ihrer großen Sprintrivalin Marianne Vos allerdings die Niederländerin Lorena Wiebes zuvor. Sie holte sich den Etappensieg auf den Champs Élysées und streifte sich auch das Gelbe Trikot über.

So gut wie Jeannie Longo, die Mehrfachgewinnerin in den 1980er Jahren, werden es Wiebes und ihre Nachfolgerinnen in Gelb aber nicht haben. Für Longo ist es noch heute ein Höhepunkt ihrer Karriere, dass sie 1988 gemeinsam mit dem damaligen Sieger im Männerennen, Pedro Delgado, aufs Siegerpodium stieg. Eine gemeinsame Ehrung wird es dieses Jahr allein aufgrund des Zeitplans nicht geben. Jonas Vingegaard, der Mann in Gelb, wird längst zum Klassikerrennen in San Sebastián unterwegs sein, während die Frauen noch um den Sieg bei ihrer Frankreichrundfahrt kämpfen. Die Tour de France der Frauen ist auf der Suche nach ihrer Identität.

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