Was dem Kreml nicht gefällt

Wie die russische Musikwelt seit dem Kriegsausbruch zerfällt

  • Roland Bathon
  • Lesedauer: 4 Min.
Zemfira bei einem Auftritt in Kasan, Russland
Zemfira bei einem Auftritt in Kasan, Russland

Das nachsowjetische Russland erfreute sich einer sehr vielfältigen, bunten Musikszene, attraktiv vor allem für Jüngere. Die zahlreichen Kreativzentren in den Metropolen der Russischen Föderation waren im ständigen Austausch untereinander wie auch mit Künstlern der Nachbarstaaten. Und wer es beispielsweise in der Ukraine in die Charts schaffte, konnte gewiss sein, auch in Russland mit seinen Songs begeisterte Hörer zu finden – und umgekehrt. Die Ostukraine galt als größter ausländischer Markt für russischsprachige Musik. Und dies auch, obwohl die Protagonisten der neuen Musikszene hier wie dort dem politischen Establishment ablehnend gegenüberstanden.

Die Rede ist hier nicht nur von der offen regierungskritischen Gegenkultur, wie sie etwa vom avantgardistischen Pop-Duo Ic3peak symbolisiert wird. Auch im Mainstream gab es eine kritische Distanz zu dem, was im Kreml propagiert wurde – insbesondere mit der Eskalierung des Konflikts um die Ukraine. So band die Singer-Songwriter-Legende Zemfira 2015 bei einem Konzert provokant eine ukrainische Fahne an ihren Mikrofonständer auf offener Bühne.

Der Krieg gegen die Ukraine brachte dann eine radikale Zäsur. Russische Musiker protestierten gegen die Aggression, die Regierung zog die Daumenschrauben an. Im März kündigte der größte russische Radiokonzern an, keine Songs mehr von Bands zu spielen, die sich gegen den Krieg äußern. Im Juli veröffentlichte die Petersburger Onlinezeitung »Fontanka« eine lange Liste von Künstlern, die bei Live-Konzerten in Russland nunmehr offiziell unerwünscht sind. Parallel stellte der westliche Streamingdienst Spotify sein Angebot in Russland ein, was es russischen Musikern unmöglich machte, ihr Entgelt aus Streaming und Songverkäufen zu erhalten.

Der massive Druck staatlicherseits wie auch westliche Sanktionen lassen nicht wenige russische Künstler in Resignation fallen. Man produziert einen letzten Antikriegsbeitrag und verlässt dann die Heimat, um einer sicheren Verhaftung zu entgehen. Diese für sie natürlich ungemein schwere Entscheidung trafen beispielsweise Zemfira und Ic3peak, aber auch die Band »Little Big«, die 2020 Russland beim Eurovision Song Contest hätten vertreten sollen. Die russische Musikwelt wurde ihrer innovativsten und populärsten Vertreter beraubt.

Kritische Geister geraten dadurch natürlich auch wirtschaftlich in eine prekäre Lage, sofern sie nicht schon zu »Top-Stars« im Ausland avanciert sind und ein gewisses Vermögen angespart haben. Einnahmen aus innerrussischen Tourneen, Radio-Airplay und Streamingverkäufen fallen jetzt weg. Auftritte vor Exilrussen im Ausland bieten keinen Ersatz. Besonders schmerzlich ist, dass der ukrainische Musikmarkt für russische Künstler tabu ist. Das Parlament in Kiew verabschiedete im Juni ein Gesetz, das die Wiedergabe russischer Musik in allen Medien und an öffentlichen Orten des Landes verbietet.

Davon betroffen sind selbst ausgewiesene Kriegsgegner unter russischen Interpreten. Die lettische Onlinezeitung »Meduza« berichtete, dass auch jene beim ukrainischen Geheimdienst einen Antrag stellen müssten, als Kritiker des Putinschen Feldzugs vom Verbot ausgenommen zu werden. Sie müssten zugleich versichern, die Ukraine in ihren Grenzen von 2013 anzuerkennen. Es sei kein einziger Musiker bekannt, der diesen Prozess überstanden habe.

Auch die russischsprachigen Communities in Deutschland oder Israel können kaum Ausflucht aus dem Dilemma kritischer russischer Musiker bieten. Viele der dort lebenden Russen haben die Heimat bereits vor Jahrzehnten verlassen. Ihre Verbindung zur russischen Musikszene ist auf Bands und Songs beschränkt, die in den 90ern angesagt waren.

Die aktuelle Verschärfung der politischen Lage in Russland betrifft jedoch nicht nur Stars, die unliebsame Äußerungen tätigen. Die Regierung pflegt immer stärker das Ideal einer rückwärtsgewandten Welt, verziert mit Elementen aus dem Zarenreich oder der einstigen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, UdSSR. Jugendorganisationen, ähnlich den ehemaligen Pionieren, sollen wiederbelebt und für patriotische Ideale gewonnen werden. Da ist kein Platz für die Entwicklung und Entfaltung einer modernen, jungen Musikkultur. Sie wird schon diesseits eines offenen politischen Aufbegehrens zur Gegenkultur, wenn sie etwa westliche Musik aufgreift und verarbeitet. Jeglicher Einfluss, jeglicher Input aus dem Westen wird als Angriff auf Russland verteufelt.

Die Unterdrückung kritischer Popkultur und fehlende Einnahmemöglichkeiten für unabhängige Geister werden automatisch zu einer Verödung der bisher reichhaltigen russischen Musikszene führen. Überleben werden nur die Angepassten. Davon gibt es in Russland viele. Sie sind bereit, ein vor allem älteres und durchaus kriegsaffines Publikum mit seichter Unterhaltung zu versorgen. Echte Kreativität ist hier nicht zu erwarten. Die russische Musikwelt ist in die 80er Jahre zurückgeworfen, in die Zeit vor Gorbatschows Perestroika, wo in der Öffentlichkeit ideologische Indoktrination und geistige Ödnis herrschte und die kreativsten Köpfe in den Untergrund gezwungen waren – fern einer lebendigen, sich stetig verändernden Außenwelt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal