»Das Klima ist kriegerisch«

Die Aktivistin Helena Maleno über die Abschottungspolitik der Europäischen Union

  • Ralf Streck
  • Lesedauer: 5 Min.

Fünf Wochen sind seit dem Massaker an den Grenzzäunen von Melilla vergangen. Ihre Organisation »Caminando Fronteras« hat Stimmen von Überlebenden der tödlichen Vorgänge gesammelt. Was sagen die Opfer über die Vorgänge vom 24. Juni?

Wichtig ist, dass es nach einem Abkommen zwischen Marokko und Spanien im Vorfeld ein sehr hartes Vorgehen der marokkanischen Sicherheitskräfte gegen die Flüchtlinge und Migranten gab. Sie wurden mit Militäraktionen, mit Festnahmen und Prügel zu der Aktion gedrängt. Sogar der Wald wurde angezündet, in dem sie sich aufgehalten haben. Sie wurden auch aus Hubschraubern ständig mit Tränengas beschossen. Die auch von der Europäischen Union finanzierten marokkanischen Sicherheitskräfte haben auch wieder Frauen zur Strafe vergewaltigt.

Interview

Helena Maleno ist eine vielfach preisgekrönte Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Sie ist Gründerin der Nichtregierungsorganisation Caminando Fronteras/Walking Borders, einer Art Notrufzentrale für Menschen in Seenot. Über die aktuelle Migrationspolitik sprach mit ihr Ralf Streck.

Sie wurden regelrecht zu dem geprügelt, was dann Ansturm auf die Mauer genannt wird?

Ja. Deshalb waren sie unvorbereitet. Man sieht auf den Bildern deshalb keine Leitern, die sie sonst zuvor bauen. Sie wollten eine Tür aufbrechen. Dabei gerieten sie in eine Mausefalle, waren von beiden Seiten umzingelt. Marokkanische Sicherheitskräfte sind sogar auf spanischem Gebiet an der Seite der Guardia Civil brutal gegen die Menschen vorgegangen.

Marokko spricht bisher von 23 Toten, andere sprechen von mehr als 70. Haben Sie genaue Angaben?

Vor Ort konnten wir 37 Tote zählen. Drei weitere Menschen starben in Hospitälern an schweren Verletzungen. Schwerverletzte wurden aber auch mit Bussen deportiert, deren Schicksal ist unbekannt. Auffällig für uns war die große Zahl an Verletzten: Mehr als 800 Menschen wurden auch mit Elektroschockern traktiert, auf sie wurde zudem scharf geschossen. Zwölf Stunden wurden Verletzte nicht behandelt, das führte zur großen Todeszahl. Aber es sterben auch Frauen an Aids, nachdem sie bei den Vergewaltigungen mit HIV angesteckt wurden. Sie werden überall hin verteilt und bekommen keine Medizin mehr. Das Vorgehen ist sogar mittelfristig tödlich.

Parlamentarier haben auch Patronenhülsen gefunden, gab es Schussverletzungen?

Wir haben einen jungen Mann versorgt, dem eine Kugel herausoperiert wurde. Die Verantwortung liegt klar bei Spanien und Marokko. Es überrascht, dass uns das Massaker gezeigt wurde. Die Videos stammen von Sicherheitskräften. Zwischen den Zäunen konnte sonst niemand Aufnahmen machen, Migranten lagen verletzt am Boden. Das sollte gezeigt werden, vielleicht als Signal nach Europa.

Ist das nicht als Abschreckung gedacht? Die Aktion der Sicherheitskräfte fand kurz vor dem Nato-Gipfel in Madrid statt, auf dem Spanien durchsetzen wollte, dass Migration als Bedrohung eingestuft und in einem Atemzug mit Terrorismus genannt wird.

Exakt. Dafür hat sich die sozialistische Regierung eingesetzt. Nun hatte man Bilder und sprach auf dem Gipfel darüber. Das Klima ist kriegerisch. Niemand spricht, auch im Fall Ukraine, von Frieden. Krieg wird gerechtfertigt, um auch Grenzen zu militarisieren. Dass nun Schusswaffen eingesetzt wurden, ist ein neuer Höhepunkt. Die Schrauben werden von der Europäischen Union weiter angezogen.

Ukrainer werden mit offenen Armen empfangen, auf andere Kriegsflüchtlinge wird scharf geschossen. Wie bewerten Sie das?

Das ist Rassismus pur. Spanien ist ein sehr rassistisches Land. Das gilt aber für ganz Europa. Wir Europäer sind dafür verantwortlich, dass immer mehr Menschen an den Grenzen sterben.

Gibt es eine Untersuchung über die Vorgänge an der Mauer?

Von offizieller Seite nicht. Es ist sogar so, dass die Flüchtlinge kriminalisiert werden. 33 wurden von Marokko zu einer Gefängnisstrafe von elf Monaten verurteilt. Seit den Vorgängen am Strand Tarajal in Ceuta, wo 15 Menschen ertrunken sind, sehen wir auch in Spanien, dass die Justiz nichts aufklären will. Wir überlegen deshalb, welche juristischen Schritte wir gehen.

Was halten Sie davon, dass der sozialdemokratische Regierungschef Pedro Sánchez, der einst die Migrationspolitik humanisieren wollte, anfangs »die außergewöhnliche Arbeit der marokkanischen und spanischen Sicherheitskräfte« gelobt hat? Erst nach massiver Kritik an seinen Aussagen bedauerte er den Verlust des Lebens Verzweifelter, die er als Opfer der Schleppermafia ausmachte, nicht der Sicherheitskräfte.

Die Politik der Sozialisten ist deckungsgleich mit der des rechtsradikalen Salvini in Italien. Keine Regierung in Europa macht eine andere Politik. Und die Regierung, die sich als progressivste in der spanischen Geschichte bezeichnet, macht die gleiche Politik wie Salvini in Italien von 2018 bis 2019. Das sehen wir auch am Umgang mit Minderjährigen wie auf den Kanarischen Inseln. Dort ist sogar Podemos dafür zuständig, dass Kinder von den Eltern getrennt werden.

Haben sie das vom Linksbündnis Unidas Podemos erwartet?

In einer komplizierten Regierung mit dem schwierigen Kräfteverhältnis haben wir das erwartet. Für den Koalitionsfrieden werden die geopfert, die nicht wählen dürfen. Das kann man auch an der Sklavenarbeit in der Landwirtschaft sehen. Die hat niemand angerührt. Es gab zwar Verbesserungen im Arbeitsleben für den Rest der Bevölkerung, aber Sklavinnen und Sklaven ernten weiter Erdbeeren und Tomaten in Andalusien. So ist das strukturell rassistische System. Kinder und Eltern werden getrennt, in Ceuta, Melilla und Andalusien, wo die Rechte regiert, genau wie auf den Kanaren, wo Podemos dafür verantwortlich ist.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal