nd-aktuell.de / 02.08.2022 / Kommentare / Seite 1

So vielfältig wie die Menschheit

Das Bild eines behinderten Menschen ist oftmals gleich. Das befeuert Vorurteile, kritisiert Greta Niewiadomski

Greta Niewiadomski

Menschen mit Be_hinderungen¹ sind keine homogene Gruppe. Dennoch wird medial und in politischen Kampagnen ein stereotypes Bild gezeichnet, welches Vorurteile befeuert, statt sie abzubauen. Unsichtbare oder seltenere Be_hinderungen werden dabei schlicht vergessen. So eine Verallgemeinerung kann sogar gefährlich sein.

Stellen Sie sich doch mal einen be_hinderten Menschen vor. Zunächst erscheint – bei mir zumindest – das Bild einer Person im Rollstuhl. Doch diese Vorstellung ist ein Trugschluss, ein stereotypisches Bild. Menschen mit Be_hinderung sind so divers und unterschiedlich wie die Menschheit generell. Das Wort »Be_hinderung« vermittelt nichts über konkrete Merkmale, dennoch entwickeln wir unbewusst sofort eine Vorstellung davon, wie ein Mensch mit Be_hinderung aussehen müsste.

Gezeichnet wird dieses Bild zum einen durch Medien, etwa in Filmen und Nachrichten. Zum anderen aber auch durch politische Entscheidungen. So führt die Tatsache, dass einige Be_hinderte in Werkstätten oder Förderschulen untergebracht sind, dazu, dass sie durch fehlende Repräsentation im öffentlichen Diskurs kaum auftauchen und vom Großteil der Bevölkerung übersehen werden. Nicht zuletzt stellt das häufig verwendete Piktogramm für Menschen mit Be_hinderungen eine Person im Rollstuhl dar – und bildet so alles andere als eine heterogene Gruppe ab.

Gefährlich wird es dann, wenn Vorschläge zur besseren Integration von Be_hinderten in die Gesellschaft ebenso einseitig sind wie das Bild von ihnen. Dann ist von Barrierefreiheit die Rede, wenn eigentlich ausschließlich Rollstuhlgerechtigkeit gemeint ist. Die ist natürlich richtig und wichtig, aber für eine barriereärmere Umgebung müssten viel mehr Facetten berücksichtigt werden. Hier ein Beispiel: Vor kurzem hat in meinem Wohnort ein »Inklusionscafé« eröffnet, das mit Barrierefreiheit wirbt. An sich ist das ein cooles Projekt und sicherlich auch mit einem guten Grundgedanken verbunden. Doch die erste Problematik, die ich darin sehe, ist, dass der Begriff der Barrierefreiheit eine Utopie als realistisches Ziel vermittelt. Es ist unmöglich, alle Barrieren abzubauen. Wir sollten besser von »Barrierearmut« sprechen. Das besagte Café ist zudem für Rollstuhlfahrende zugänglich – es ist rollstuhlgerecht. Auf alle anderen Be_hinderungen wird jedoch keine Rücksicht genommen. Es ist damit nicht einmal wirklich barrierearm.

Um Barrieren abzubauen, könnten die Speisekarten eine elektronische Vorlesefunktion haben, damit auch Menschen mit starker Sehschwäche sie verstehen können. Ebenso sinnvoll wäre Brailleschrift (Blindenschrift) und unterschiedlich hohe Tische für alle Körpergrößen. Auch ein Tisch mit Sichtschutz, also etwas Privatsphäre für Menschen, die unter Angst- und Panikattacken leiden, könnte Barrieren abbauen.

Die Liste kann noch weiter fortgeführt werden und dabei wird eines besonders deutlich: Wenn wir weiter so tun, als entsprächen alle Be_hinderten dem Stereotyp in unseren Köpfen, dann führt das kurz- und langfristig zu einem Stillstand an öffentlichen Maßnahmen, die zur Verbesserung der Lebensqualität von Menschen mit Be_hinderungen beitragen sollten. Wenn in der Öffentlichkeit suggeriert wird, dass wir bereits alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, dann wird sich niemand mehr die Mühe machen, sich für einen barrierearmen öffentlichen Raum einzusetzen. Aber mit ein paar Rampen, ist es eben doch noch nicht getan.

Möglichkeiten, diese Stagnation zu vermeiden, wären, die Vielfalt an Be_hinderungen sichtbar zu machen. Denn falsche Rückschlüsse und unzureichendes Engagement passieren meist nicht aus Boshaftigkeit, sondern aufgrund fehlender Informationen. Der Schlüssel ist Medienpräsenz und Kontakt auf Augenhöhe. Be_hinderte zählen zu den am stärksten stigmatisierten Randgruppen überhaupt. Doch wenn wir häufiger auf Menschen mit verschiedensten Be_hinderungen treffen und mit ihnen interagieren, dann können wir sie nicht mehr ständig übersehen.

¹Der Unterstrich in »be_hindert« soll verdeutlichen, dass es sich um eine Neuinterpretation des Begriffs handelt, bei der nicht der Mensch, sondern die Umwelt ein Problem darstellt.