nd-aktuell.de / 05.08.2022 / Kommentare / Seite 1

Die Sorgen der Anderen

Wer öffentlich ein Problem benennt, wird sofort belehrt und attackiert

Leo Fischer

Haben wir denn keine anderen Probleme? Dieser Satz ist der geheime Sommerhit, er steht buchstäblich unter jedem Nachrichten- oder Meinungsbeitrag. Ob beim Gendern, bei Pelosis Taiwan-Besuch[1] oder bei der Absage des neuen Batgirl-Films: Stets kommt von irgendwo ein Oberschlauer her, der sich in der Lage fühlt, sämtliche Weltprobleme auf einer Skala von 1 bis 10 zu priorisieren – und Überraschung, deine persönlichen Probleme sind garantiert nicht in den Spitzenrängen. Wir haben schließlich andere Probleme.

Die totale Atomisierung der Öffentlichkeit, eine diffuse, quer durch alle Milieus gelebte »Widerständigkeit« sowie das Gefühl, durch Social Media unmittelbar am Weltgeist teilzuhaben, verwandeln die Probleme der Anderen in Petitessen, die eigenen jedoch zum dringendsten Ausdruck eines bedrohten Allgemeinwohls. Alle putzen die Sorgen aller Anderen herunter, während sie sich selbst von den Anderen heruntergeputzt fühlen. Es können Menschen buchstäblich aus einem brennenden Wald heraus schreiben, irgendwas ist immer wichtiger, und am wichtigsten natürlich ich selber. Das, was anderen wichtig ist, kann unmöglich wichtig sein, denn es ist ja anderen wichtig, nicht mir.

Im Englischen spricht man von »Derailing« oder »Whataboutism«[2] als rhetorischen Strategien; das Problem liegt jedoch tiefer: Große Teile der Bevölkerung haben sich jegliche Empathie abtrainiert, samt der Abstraktionsfähigkeit. Die bloße Vorstellung, die Probleme der Anderen könnten irgendwann, irgendwie die eigenen werden, ist objektiv nicht mehr möglich. Es klagen buchstäblich immer nur die Betroffenen, während man ihnen zugleich die Objektivität abspricht, denn sie sind ja betroffen, also nicht unparteiisch. Unparteiische wissen immer schon, dass »wir« in Wahrheit andere Probleme haben. Pandemie, Energiekrise, unbezahlbarer Wohnraum – indem ich ein Problem als das der Anderen kennzeichne, inszeniere ich mich zugleich als davor gefeit, qua Privileg oder höherer Wissenschaft. Es betrifft mich nicht, ich bin stark, ihr seid schwach! Zugleich traut man dieser eigenen Stärke aber nicht so ganz – warum sonst setzt man vor den Satz ein Wir? Ein ominöses Kollektiv von Wissenden, das die wahre Bedeutung aller Probleme kennt, hat dieses dein Problem als unbedeutend erkannt; ich gehöre zu diesem Wir, du wahrscheinlich nicht.

Haben wir keine anderen Probleme – diese Frage soll außerdem beschämen und einschüchtern: Es sollen möglichst überhaupt keine Beschwerden mehr kommen. Ich meine mich an eine Studie zu erinnern, dergemäß sich in keiner Dienstleistungsgesellschaft Europas die Menschen so wenig beschweren wie in Deutschland; so wenig hier, dass einige Firmen dies als Schwächung ihrer Qualitätskontrolle empfinden. Man kann schließlich nicht auf Kund*innenbeschwerden reagieren, wenn keine kommen. In der Welt der Online-Maulhelden ist das immer noch zu viel. Da wird sich beschweren als »Jammern auf hohem Niveau« bezeichnet, denn ein bisschen weibisch, dekadent, verzärtelt und schwul ist es ja, das Problemehaben. Der deutsche Internetmann hat keine Probleme, er hat nur Lösungen!

In linken Zusammenhängen fällt ihnen dann noch gelegentlich ein, von Haupt- und Nebenwidersprüchen zu dozieren. Ja, haben wir denn keine anderen Widersprüche?! Der Satz kommt mit hoher Sicherheit von denen, die auch gegen den Hauptwiderspruch schon lange nichts mehr unternehmen. Warum aber all diese übertrieben Sorglosen ihre Sorglosigkeit nicht für sich behalten können, ja, das ist wahrhaftig ein anderes Problem.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165899.pelosi-in-taiwan-besuch-mit-militaerischer-entourage.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162566.whataboutism-ablenkung-ist-die-beste-verteidigung.html