nd-aktuell.de / 07.08.2022 / Reise / Seite 1

Kunstgenuss im Vorbeigehen

Fiesta des Lichts und der Farben in Madeiras Hauptstadt Funchal

Karsten-Thilo Raab
Viele Türen wurden von Künstlern gestaltet.
Viele Türen wurden von Künstlern gestaltet.

Bei der Blondine im roten Kostüm und den langen roten Handschuhen könnte es sich bei genauerem Hinsehen auch um einen Mann handeln. Allein die Größe legt den Verdacht nahe, zumal die Dame den Großteil der Tür in Beschlag nimmt. Im Vorbeigehen könnte der Gedanke aufkommen, die Tür sei der Zugang zu einer Welt der käuflichen Liebe. Doch weit gefehlt: Die Blondine ist Teil eines Kunstprojekts, bei dem das Gros der Türen in der ohnehin charmanten Altstadt von Funchal künstlerisch gestaltet wurde.

Seit dem Jahre 2010 treibt es die Inselhauptstadt von Madeira diesbezüglich im wahrsten Sinne des Wortes bunt. Insbesondere entlang der Rua Santa Maria reiht sich Kunstwerk an Kunstwerk. Kaum eine Tür, kaum ein Tor, an dem im Rahmen der Kunstinitiative »Projecto artE de pORtas abErtas« – was auf Deutsch etwa so viel wie »Kunst der offenen Türen« bedeutet – nicht ein ungewöhnlicher Hingucker entstanden ist. Blickfänge, die gleichzeitig von den bröckelnden Fassaden in Funchals historischer Altstadt ablenken und fast unweigerlich Passanten zu einer ganz individuellen Fotosafari auf der Jagd nach den schönsten Motiven einladen.

Mal schaukelt eine überdimensionale Meerjungfrau vor der Haustür und wird dabei von einem Delphin beobachtet; mal stolziert ein Madeirer Pärchen in traditioneller Inseltracht über den steinigen Strand; dann wiederum liegt sich ein Paar leidenschaftlich in den Armen. An anderen Türen fliegt Amor mit seinem Pfeil auf der Suche nach Liebenden durch die Luft; spielt ein befrackter Musiker auf dem Cello, und eine splitterfasernackte, voluminöse Frau bedeckt einen Hauseingang. Die von mittlerweile mehr als 100 Künstlern gestalteten Motive bestechen durch ihre Vielfältigkeit und Kreativität und sorgen gleichzeitig für Kunstgenuss im Vorbeigehen.

Angefangen hatte alles mit der Tür der Hausnummer 207 in der Rua da Carreira, die 2010 von Martinho Mendes umgestaltet wurde. Danach wurde die Kunstinitiative offiziell für die Rua Santa Maria ins Leben gerufen. Hier durfte sich Künstler Mark Milewski dann 2011 als Erster am Eingang des Hauses Nummer 77 verewigen. Die ehemals verlassene und runtergekommene Gegend wurde in der Folge nach und nach mit neuem Leben gefüllt und mit kulturellen und künstlerischen Aktivitäten belebt.

Seither wächst die Zahl der künstlerisch gestalteten Hauseingänge kontinuierlich. Auch weil hier absolute künstlerische Freiheit herrscht. Von Malerei, über Graffiti, Musik und Fotografie bis hin zu Skulpturen ist alles erlaubt, was das Straßenbild verschönert. Und so ist das Projekt in der Altstadt von Funchal zu einem Selbstläufer geworden, das Künstler aus aller Welt anlockt und sich längst auch auf weitere Straßen im historischen Zentrum ausgeweitet hat.

Von der heutigen Dynamik allerdings war in den Anfangsjahren des Kunstprojekts wenig zu spüren. Dies lag insbesondere daran, dass es alles andere als einfach war, die jeweiligen Hausbesitzer mit ins Boot zu nehmen und deren Erlaubnis für die Umgestaltung ihres Eigentums zu erhalten. Zudem gab es bei vielen Vorbehalte, insbesondere gegenüber weniger bekannten Künstlern, da sich die Qualität ihrer Arbeiten nur schwer einschätzen ließ. Doch dies ist mittlerweile Schnee von gestern. Nicht von ungefähr wird daher in Funchal mit Blick auf die mehr als 100 gestalteten Türen und Tore von einer »Fiesta des Lichts und der Farbe« gesprochen. Ein Fest für die Augen, das tagtäglich beim Gang durch Funchal genossen werden kann.