nd-aktuell.de / 10.08.2022 / Kommentare / Seite 1

Dunkle Wolken über der Metallindustrie

Eine Zuspitzung der Gaskrise infolge des Ukraine-Kriegs könnte Zehntausende Arbeitsplätze in der Metallindustrie gefährden

Hüseyin Aydin und Bernhard Sander

Die gewollte Nähe Deutschlands zu Russland durch Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Nachfolgerin Angela Merkel (CDU) im wirtschaftlichen Austausch hat mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einen jähen Abbruch erfahren. Dabei wird die enorme Abhängigkeit von russischem Gas offensichtlich. Die Einfuhrpreise für Gas hatten sich seit der Corona-Pandemie schon vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine verdreifacht. Handlungsbedarf ist also gegeben.

Die EU-Handelsembargos dürften ohne große direkte Auswirkungen auf das Geschäft der Schmiedeindustrie bleiben. Nur vereinzelt belieferte die Schmiedeindustrie vor Ausbruch des Krieges noch Kunden in Russland oder der Ukraine. Die Umsatzeinbußen dürften aus einer direkten Betrachtung kaum spürbar bleiben, zumal russischer Stahl ja bisher auch Wettbewerb für die Schmiedeindustrie auf den westlichen Märkten darstellte, der nun entfällt. Deutlich größer scheint die Gefahr, dass Deutschland – ob nun aus einer aktiven Entscheidung heraus oder in Folge eines durch Russland eingeleiteten Lieferstopps – keine ausreichende Versorgung mit Erdgas sicherstellen kann.

Die Schmiedeindustrie sieht sich zwar als wichtiges Glied in der Kette zur Aufrechterhaltung einer notwendigen Infrastruktur, wird aber nicht in den Definitionsbereich des geschützten und damit privilegierten Letztverbrauchers kommen. Bei Eintritt des schlimmsten Falls, einer vollständig ausbleibenden Belieferung mit Erdgas aus Russland, müsste die Stahl-, Schmiede-, Gießerei- und Aluminiumindustrie die Produktion herunterfahren oder einstellen. Das beträfe etwa 96 500 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Auch in der sonstigen Industrie müssten Teile der Produktion stillstehen, denn zwei Drittel des Schmiedeumsatzes von rund 20 Milliarden Euro wurden 2021 im Inland weiterverarbeitet, vor allem im Flugzeug- und Fahrzeugbau sowie bei der Produktion von Maschinenteilen. Das Statistische Bundesamt stellte in einer Umfrage fest, dass Materialknappheit die Entwicklung der Industrieproduktion in Deutschland beeinträchtigen könne. Laut Ifo Institut gaben im Juni 2022 rund 74 Prozent der befragten Industrieunternehmen an, von Produktionsbehinderungen durch knappe Rohstoffe und Vormaterialien betroffen zu sein.

Der Anteil russischen Gases am Gesamtverbrauch konnte inzwischen bereits auf 35 Prozent reduziert werden. Sollte die Belieferung der Industrie lediglich um diese 35 Prozent reduziert werden, ist eine Fortführung der Produktion mit geringerer Kapazität denkbar. Die gesamte Metallindustrie deckt ihren Energiebedarf zu 14,7 Prozent über Öl und Gas, aber das ist von Branche zu Branche sehr unterschiedlich.

Selbst wenn wie in der Pandemie die Unternehmen durch großzügige Kurzarbeitsregelungen bei den Lohnkosten entlastet würden, sind die Wirkungen steigender Preise oder Zulieferausfällen auf die Lieferbeziehungen zwischen den Branchen sehr unübersichtlich. Die Überlebensfähigkeit der Industrie in Deutschland in einer Phase der Gas-Unterversorgung wäre so aber für einige Zeit gegeben. Die Wettbewerbsfähigkeit allerdings würde sehr eingeschränkt sein.

Ein von der Öffentlichkeit bisher kaum beachteter Aspekt sind die Importe von Beimengungen wie Palladium, Kathodenkupfer, Chrom, Nickel sowie Aluminium und Titan. Die Russische Föderation ist ein wichtiger Lieferant solcher nichtenergetischer Rohstoffe. Im Jahr 2020 importierte Deutschland Metalle im Wert von 2,8 Milliarden Euro aus Russland. Ein Lieferstopp ohne Ersatzlieferanten könnte die gesamte Automobil-, Stahl-, und Chemieindustrie stilllegen. Die Bundesrepublik hätte es dann mit einer in ihrer Geschichte noch nie erlebten Massenarbeitslosigkeit zu tun. Die sozialen Sicherungssysteme wären nicht im Stande, diese Last zu tragen.

Deutschland sollte sich darum bemühen, auf Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskiy einzuwirken, die Kampfhandlungen auszusetzen und Friedensverhandlungen zu beginnen. Dies wäre zuallererst im Interesse der vom Krieg direkt betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainer. Es würde aber auch schwere soziale Verwerfungen für viele abhängig Beschäftigte in Deutschland abwenden.