Der lange Arm der Fatwa?

Noch immer ist unklar, warum der Schriftsteller Salman Rushdie niedergestochen wurde

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist 1988, als die islamische Revolution im Iran wieder im Bewusstsein der Weltöffentlichkeit auftaucht. Im Westen erscheint das Buch »Die satanischen Verse« des britisch-indischen Schriftstellers Salman Rushdie, für Ajatollah Ruhollah Chomeini wird es zur Gelegenheit, seinen Führungsanspruch in der muslimischen Welt zu untermauern: Das Buch sei blasphemisch, es sei die Pflicht eines jeden Muslims, den Autor zu töten, heißt es in einer Fatwa.

Nun ist die Vergangenheit zurück: Auf offener Bühne verletzte ein 24-Jähriger den Schriftsteller während eines Vortrags in Chautauqua im Bundesstaat New York durch mehrere Stiche an Hals, Gesicht, Leber und Arm schwer. Doch das Motiv bleibt im Dunkeln: Er habe Sympathien für den Iran, für die dortigen Revolutionsgarden gehegt, vermuten die westlichen Medien. Darauf weist auch ein mittlerweile deaktiviertes Facebook-Profil hin. Vielleicht habe er es auch auf die drei Millionen Dollar an Belohnung abgesehen, die die 15. Khordad-Stiftung in den 90er Jahren für die Ermordung Rushdies ausgelobt hatte.

Die dem Ajatollah direkt unterstellte Organisation wurde 1982 gegründet, um Veteranen der Islamischen Revolution und deren Familien zu unterstützen. Allerdings gibt es in den vergangenen zehn Jahren so gut wie keine Hinweise auf Aktivitäten. Quellen in Teheran berichten, an der offiziellen Adresse befinde sich kein Hinweis auf die Stiftung.

In den vergangenen Jahren waren Rushdie und sein Buch auch im Iran aus der öffentlichen Wahrnehmung so gut wie verschwunden. Doch zurückgenommen wurde die Fatwa nie. Noch 2019 twitterte Ajatollah Ali Khamenei, die Fatwa seines Vorgängers »stehe fest und unwiderruflich«.

Das Attentat traf auch die ohnehin schon wackligen Atomverhandlungen mit dem Iran ins Herz. Am Sonntag wurde vielfach hinterfragt, ob sie nun noch fortgesetzt werden könnten. Rishi Sunak, Kandidat für das Amt des britischen Premierministers, twitterte, man müsse sich fragen, ob die Verhandlungen in einer Sackgasse angekommen seien.

Im Iran indes sind die Reaktionen gemischt. Präsident Ebrahim Raeissi, der Ende der 80er Jahre um die 5000 Regimegegner zum Tode verurteilt haben soll, wollte sich auch auf Nachfrage bei seinem Sprecher nicht äußern und auch aus dem Büro des Ajatollah drang bis Sonntagmittag kein Wort. Die konservative Zeitung »Vatan Emrooz« titelte »Messer im Nacken von Salman Rushdie«, während die ebenfalls konservative Zeitung »Khorasan« ihren Bericht mit »Satan auf dem Weg in die Hölle« überschrieb.

Nachdenklicher gibt sich indes Mohammad Marandi, Mitglied der iranischen Delegation bei den Gesprächen über das Atomabkommen: Er werde zwar »keine Träne vergießen«, der Zeitpunkt des Attentats sei aber an diesem Punkt in den Gesprächen »komisch.«

Ein Anhänger der Studentenbewegung im Iran sagte derweil dem »nd« am Telefon, in seinem Freundeskreis seien viele schockiert. Zwar habe niemand das Buch gelesen, doch das Attentat sei ein Anschlag auf alle, die frei über Religion und den eigenen Staat diskutieren wollen: »Wir leben seit Jahren mit staatlichen Repressionen, aber jetzt ist jemand von einem Mitmenschen angegriffen worden, weil er vor vielen Jahren von seinem Recht auf Meinungsfreiheit Gebrauch gemacht hat.«

Eine Einzelmeinung? Tatsache ist, dass sich die iranische Gesellschaft schon seit langem spaltet. Junge Iraner wünschen sich oft eine Öffnung nach Westen, eine Verbesserung der Lebensbedingungen, wozu sie auch Redefreiheit zählen. Die Wahl Raeissis im vergangenen Jahr zeigte, dass nur noch ein geringer Teil der Bevölkerung hinter den ultra-konservativen Werten des Revolutionsgedankens steht. Ungefähr 60 Prozent der Wählerschaft boykottierten damals die Wahl aus Mangel an Alternativen.

Die Fatwa gegen Rushdie war einst vor allem Teil des von Khomeini angestrebten »Revolutionsexports«: Die islamische Revolution sollte, unter Khomeinis geistiger Führung, auf andere Länder übergreifen. Deshalb unterstützen die Revolutionsgarden auch Gruppen in vielen Ländern des Nahen Ostens.

Doch nun zeichnet sich ab, dass sich die Gewalt, die dahinter steht, verselbstständigt hat: Im Gazastreifen macht der Anfang der 80er Jahre unter iranischem Einfluss gegründete Islamische Dschihad weitgehend sein eigenes Ding. Im Irak droht der schiitische Prediger Muktada al Sadr das Land ins Chaos zu stürzen. Und ein 24-jähriger US-Amerikaner könnte nun mit einer Reihe von Messerstichen auch die Atomverhandlungen beendet haben. Nur: Damit wird auch wahrscheinlicher, dass beispielsweise Israel die militärische Option einsetzt.

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