nd-aktuell.de / 16.08.2022 / Kultur / Seite 1

Detroit, Frankfurt, Klosterlausnitz

Die Doku »Techno House Deutschland« zeigt, wie sich elektronische Musik entwickelt hat – und wie wichtig der Osten dafür war

Jan Freitag
Musikproduzent Roman Flügel lernte mit sechs Jahren Klavier, was ihm aber zu dröge war. Er entdeckte Drumcomputer und da war es um ihn geschehen.
Musikproduzent Roman Flügel lernte mit sechs Jahren Klavier, was ihm aber zu dröge war. Er entdeckte Drumcomputer und da war es um ihn geschehen.

Die Nabel der Welt tragen schillernde Namen. Rom, Alexandria, Delphi hießen einige oder auch Florenz, Timbuktu, Konstantinopel; und sie alle gelten – ob zu Recht oder nicht – als Herzen stilprägender Epochen und klingen ungleich imposanter als Achtermai, Distillery oder Muna. Wer noch nie davon gehört hat: So heißen internationale Institutionen einer Popkultur, die so global ist wie kaum eine zuvor: Techno.

Destilliert aus New Wave, Synthiepop, Electrofunk und Industrial, ist dieses repetitive Stakkato von Detroit aus über Frankfurt in die hinterletzten Winkel aller Herren und Damen Länder marschiert. Ein Siegeszug, den die ARD-Doku »Techno House Deutschland« nacherzählt. Das Herkunftsland musikalischer Revolutionäre von Karl-Heinz Stockhausen über Can bis Kraftwerk spielt zwar eine Schlüsselrolle beim Vierviertelmarsch elektronischer Sounds aus der Subkultur in den Mainstream. Was der Achtteiler hervorhebt, sind jedoch die Vororte glitzernder Metropolen wie New York oder Berlin.

Wer die Filmemacherinnen Linda Jeschonneck, Wero Jägersberg und Mariska Lief acht dreißigminütige Folgen durch die Historie des Techno begleitet, landet demnach auch in Chemnitz, Leipzig, Klosterlausnitz. Ein paar Jahre nur, nachdem Pioniere wie Sven Väth, Talla 2XLC oder Athanassios Christos Macias alias Ata den minimalistischen Beat stampfender Bässe aus den USA nach Hessen importiert hatten, gründen ostdeutsche Epigonen dort Clubs wie das Achtermai (Chemnitz), die Distillery (Leipzig) oder inmitten der thüringischen Pampa: ein Kulturzentrum namens Muna.

Klingt für Außenstehende nach böhmischen Dörfern. Aber wer sich die Mühe macht, Tanzwütige in New York, Rio, Tokio danach zu fragen, kann durchaus auf die Kenntnis dieser Randgebiete im globalen Musikzirkus treffen. Dass Wero Jägersberg und Mariska Lief fast 50 Prozent ihrer viertstündigen Milieustudie ostdeutschen Clubs und Festivals, geprägt von aufopferungsvollen Technofreaks wie Mathias Kaden, Thomas Sperling oder Ronny Seifert widmen, ist also kein romantisierender Lokalpatriotismus, sondern Ergebnis guter Recherchen über verspätet blühender Landschaften voll verwaister Flächen für ein bisschen Anarchie zum Abdrehen.

Trotzdem spielen die acht Folgen natürlich auch noch anderswo. Im legendären Frankfurter Undergroundclub »Omen« zum Beispiel, den der eingeborene »Schamane, Vater, Zeremonienmeister« Sven Väth 1988 ausgerechnet unter den Bankentürmen Mainhattans eröffnet hatte. Oder im ähnlich berühmten Berliner Techno-Tempel »Tresor«, mit dem die Hauptstadt drei Jahre später Hessen als nationalen Hotspot der frischen Jugendkultur abzulösen begann. Hier wie da ging es allerdings gar nicht um »Locations«, wie solche Hallen neudeutsch heißen; es ging noch nicht mal um DJs oder Produzenten, unter denen sich im Sog der Loveparade bald hochbezahlte Superstars herausbildeten.

Wer »Techno House Deutschland« aufmerksam verfolgt, glaubt den Autorinnen sofort, was ihre Protagonisten ständig beteuern: Es geht um die Musik, ein schweißtreibender, vorurteilsfreier, hedonistischer, fast klassenloser Sound, der gerade durch seine Monotonie Glücksgefühle entfacht und alle Beteiligten mit 90 Beats per Minute aufwärts und Bässen wie Dampfhammer zu einer Art Tanzbodenfamilie verschweißt. Zu viel Pathos? Vielleicht.

Aber Schwulenclubs wie das Hamburger »Front«, wo Homosexuelle Mitte der Achtziger den enthemmenden Sound für sich entdeckt haben, zeigen im Gleichklang mit Reisebussen voll Feierwütiger, die Anfang der Neunziger von Stadt zu Stadt, also Rave zu Rave gefahren sind, wie gemeinschaftsbildend Techno war und ist. Dafür darf die Doku dann sogar auf ikonografische Bilder der Loveparade verzichten, wo die Eroberung freier Flächen nicht nur Mainstream, sondern Business wurde. Worauf sie dagegen nicht verzichtet, sind einige Schattenseiten der Geschichte des Techno.

Ein misogynes Männersystem zum Beispiel, das Frauen jahrelang von den Plattentellern und Tanzflächen fernhielt. Die Okkupation der schwarzen Subkultur amerikanischer Industriebrachen durch weiße Wohlstandskinder, was die türkisch-deutsche DJ Ipek »Kolonisierung« nennt. Oder das Entstehen einer neuen Kaste Promis mit privilegiertem Zugang zu Neuerscheinungen und 200 000 Flugmeilen pro Jahr.

All dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie hingebungsvoll selbst Stars wie Paul van Dyk oder Sven Väth ihrer Passion nachgehen. Wenn das ARD-Publikum sie vier Stunden auf Festivals und Dancefloors begleitet, dürfen sie also ein bisschen daran teilhaben. Oder im Anschluss einfach den nächsten Club aufsuchen. Es dürfte darin wild zugehen – ganz gleich, ob Detroit, Frankfurt oder Klosterlausnitz.

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