Gerochene Geschichte

Interdisziplinäre Rekonstruktion historischer Geruchswelten

  • Steffen Schmidt
  • Lesedauer: 4 Min.
Pieter Bruegels Bauernhochzeit: Aus Gemälden lassen sich auch Rückschlüsse auf die Geruchswelt der Zeit ziehen.
Pieter Bruegels Bauernhochzeit: Aus Gemälden lassen sich auch Rückschlüsse auf die Geruchswelt der Zeit ziehen.

Wer einmal Patrick Süßkinds »Parfüm« gelesen hat, wird sich an die ekelerregende Schilderung der Gerüche im Paris des 18. Jahrhunderts zu Beginn des Romans erinnern. Doch was wissen wir wirklich darüber, wie es in längst vergangenen Zeiten gerochen hat? Wenig genug, denn Düfte und Gerüche werden von meist flüchtigen organischen Substanzen getragen. Und die sind lange verflogen und zersetzt, bevor Archäologen sich Jahrhunderte oder gar Jahrtausende später mit den materiellen Hinterlassenschaften der Vergangenheit befassen. Und selbst zeitgenössische Schilderungen sind mit Vorsicht zu genießen. Denn gewohnte Gerüche sind für einen Chronisten selten erwähnenswert.

Doch wie bei der Frühgeschichte der Menschheit finden sich inzwischen etliche neue Methoden im Werkzeugkasten der Archäologie. Ein Übersichtsartikel von Forschenden des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte im Fachjournal »Nature Human Behaviour« stellt einige naturwissenschaftliche Werkzeuge vor, die uns mehr Informationen über die Gerüche der Vergangenheit liefern können.

Auch wenn der menschliche Geruchssinn im Vergleich zu unseren nächsten Verwandten, den Bonobos und Schimpansen eher grob und unempfindlich ist, so spielen Gerüche doch eine wesentliche Rolle im menschlichen Leben. Weil dieser wissenschaftlich lange wenig verstandene Sinn am Anfang der Menschheitsgeschichte vor allem – wie im Tierreich – als Alarmsignal für sich nähernde Feinde, für Feuer oder zum Erkennen verdorbener Nahrung diente, ist er am engsten mit unserem Gehirn »verdrahtet«. Anders als bei Tastsinn, Ohren und Augen erreichen die Signale der Riechzellen in der Nase das Gehirn ohne Umweg. Deswegen werden schwache Geruchsreize oftmals gar nicht bewusst wahrgenommen, haben aber dennoch Einfluss auf unser Bewusstsein. Etwa, wenn bei einem bestimmten Geruch plötzlich eine Erinnerung lebendig wird, die einst zusammen mit dem Geruch gespeichert worden ist. Auch der Satz »den kann ich einfach nicht riechen« ist durchaus wörtlich zu nehmen. Denn Sympathien und Antipathien werden ebenso wie Genuss und Ekel mit Gerüchen verbunden.

Erst Anfang der 1990er Jahre wurden die ersten Gene entdeckt, die für die menschlichen Geruchsrezeptoren kodieren. 2004 bekamen die US-Forscher Richard Axel und Linda Buck für ihre Entdeckung den Medizin-Nobelpreis. Inzwischen sind circa 1000 dieser Gene bekannt. Nicht ganz so klar ist, wie die eigentliche Geruchswahrnehmung funktioniert. Bekannt sind die eigentlichen Geruchsrezeptoren an den Riechzellen. Die vorherrschende Theorie, dass diese gewissermaßen nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip funktionieren, wird ausgerechnet durch ein recht gefährliches Geruchsmolekül infrage gestellt: die hochgiftige Blausäure. Das winzige Molekül aus je einem Atom Wasserstoff, Kohlenstoff und Stickstoff riecht ebenso nach Bittermandel wie das ganz anders geformte Benzaldehyd. Sicher ist jedenfalls, dass leicht flüchtige Moleküle den Geruchsreiz auslösen. Will man also aufklären, wie es im eingangs erwähnten Paris des 18. Jahrhunderts tatsächlich gerochen haben mag, bräuchte man entweder jene Geruchsmoleküle, die dort seinerzeit durch die Luft flogen, oder aber einen Weg, die passenden Gerüche zu rekonstruieren.

Wie die Max-Planck-Forscherin Barbara Huber, Hauptautorin des Übersichtsartikels, erläutert, braucht es dazu Proben aus dem passenden archäologischen Kontext, sogenannten Duftarchiven. Solche Duftarchive können archäologische Objekte sein, die mit Geruchsquellen in Verbindung gebracht werden, wie z. B. Räuchergefäße und Parfümflakons, aber auch Kochtöpfe oder Vorratsgefäße. Auch Material aus Mülldeponien oder dem Zahnbelag der Toten können als Duftarchiv dienen. Als Geruchsarchiv taugt alles, was die Reste von aromatischen Substanzen enthält, die analysiert und identifiziert werden können. »Gerüche bis in die tiefe Vergangenheit zu verfolgen, ist zugegeben keine leichte Aufgabe«, so Huber. »Doch wir sind in der Lage, kleinste organische Überreste dieser ehemals duftenden Substanzen, die sich in Artefakten und archäologischen Befunden erhalten, zu analysieren und identifizieren. Mithilfe von biochemischen und biomolekularen Methoden ist es möglich, Gerüche und Düfte zu rekonstruieren, die einen wichtigen Teil des historischen Lebens ausmachten und menschliches Handeln, Denken und Erinnern prägten.«

Um allerdings die Komplexität der alltäglichen Geruchskulisse einer Metropole des 18. Jahrhunderts zu erfassen, gibt es wohl nicht genügend Geruchsarchive aus den verschiedenen Lebensbereichen. Die archäologische Überlieferung aus der Zeit vor 1800 weist ebenso wie zeitgenössische Berichte und bildliche Darstellungen doch erhebliche Lücken auf, besonders da, wo die sogenannten kleinen Leute betroffen sind.

Ein 2020 gestartetes europaweites interdisziplinäres Projekt namens Odeuropa (auch Wissenschaftler lieben Wortspiele) soll Texte und Bilder aus den letzten 400 Jahren mithilfe Künstlicher Intelligenz auf Bezüge zu Gerüchen analysieren. Ziel ist eine Art Datenbank, die nicht nur einen Kontext zu den Geruchsarchiven herstellt, sondern auch für die museale Vermittlung von Kenntnissen über die Gerüche in den vergangenen vier Jahrhunderten nutzbar ist.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal