Zeit für Aufklärung

Claudia von Gélieu spricht als erste Zeugin im Neukölln-Untersuchungsausschuss

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 5 Min.

Claudia von Gélieu beginnt ihr Statement mit einer klaren Ansage. »Ich möchte als erstes feststellen, dass das heute das erste Mal ist, dass ein offizielles Gremium des Parlaments sich für die Perspektive einer Betroffenen interessiert«, sagt sie mit fester Stimme in ihr Mikrofon. Ihr gegenüber sitzt der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum sogenannten Neukölln-Komplex. Mit der dritten Ausschusssitzung am Freitag beginnt zugleich die Beweisaufnahme, Betroffene der über Jahre hinweg unaufgeklärten Anschlagsserie werden angehört und befragt. Von Gélieu ist die erste geladene Zeugin.

Die Geschichte der Publizistin beginnt mit der Eröffnung der Galerie Olga Benario 1984 in Neukölln. Bereits damals sei aus Angst vor neonazistischen Angriffen viel Polizei vor Ort gewesen, die Galerie sei von Anfang an als dezidiert antifaschistischer Bildungsort angetreten. Von Gélieu engagiert sich bis heute in dem Projekt. Gezielte Angriffe habe es ab 2009 gegeben. Von Gélieu berichtet von Schmierereien mit klarem Drohinhalt, Fensterbrüchen und Brandsätzen.

Sie hat Bilder mitgebracht, etwa von einem Graffito an den Rollläden der Galerie vom 6. Dezember 2010. »Rotfront verrecke / Gruß vom Nikolaus«, steht da geschrieben, darunter ein Keltenkreuz. Auch wenn der politische Hintergrund offensichtlich gewesen sei, habe die zuständige Polizeibehörde lange Zeit nicht einmal Anzeigen aufgenommen. »Das sind nur Jungenstreiche«, habe es geheißen. 2017 erreichte der Terror dann von Gélieus Zuhause. Unbekannte steckten ihr Auto in Brand, das Feuer kam der Hausfassade bedrohlich nahe. Aufgeklärt ist der Vorfall bis heute nicht.

Der Untersuchungsausschuss soll die Arbeit der Behörden zwischen 2009 und 2021 unter die Lupe nehmen. Ein Fragenkatalog beschäftigt sich etwa mit möglichen Fällen illegaler Datenweitergabe, Versäumnissen und aktiver Behinderung von Ermittlungsarbeit. Von Gélieu treibt besonders die Frage um, ob sie und ihr Mann trotz eines möglicherweise bestehenden Verdachts nicht gewarnt wurden. Es ist mittlerweile bekannt, dass dem Betroffenen und Berliner Linke-Abgeordneten Ferat Koçak Informationen zu seiner Gefährdung vorenthalten wurden. »Aber ist Koçak wirklich ein Einzelfall?«, fragt von Gélieu.

Dass es überhaupt einen Untersuchungsausschuss gibt, dafür haben von Gélieu und ihre Mitstreiter*innen lange gekämpft. Matthias Müller von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) erinnert sich, wie sich die Betroffenen organisierten, nachdem um 2016 herum die Anzahl neonazistischer Angriffe wieder zugenommen hatte: »Sie haben immer gefragt: Wie kann das sein? Was tut die Polizei eigentlich?« Sie hätten ein Treffen mit dem Innenstaatssekretär initiiert, sich mit dem lokalen Polizeiabschnitt ausgetauscht, mit dem LKA. »Aber sie hatten irgendwann das Gefühl, das bringt nichts, die Serie geht weiter«, so erzählt es Müller »nd«.

Weil sich in den Behörden nichts bewegte, wendete sich die Gruppe Betroffener 2018 mit dem Wunsch nach externer Aufklärung an den Generalbundesanwalt. »Aber die Anfrage wurde von ihm abgelehnt«, so Müller. Im Frühjahr 2019 habe sich die Gruppe deshalb auf die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss geeinigt. Doch die Begeisterung über diesen Vorschlag habe sich insbesondere in der SPD-geführten Innenverwaltung unter dem damaligen Senator Andreas Geisel in Grenzen gehalten, erklärt Niklas Schrader, der Innenexperte der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus. Denn: »Natürlich war das damals eine große Gefahr für den Innensenator und seine Verwaltung, wenn Dinge aufgewühlt werden, weil dann die Verantwortlichen geradestehen müssen.«

Geisel gründete lieber eine Expert*innenkommission: Die ehemalige Polizeipräsidentin von Eberswalde (Barnim), Uta Leichsenring, und der frühere Bundesanwalt Herbert Diemer sollten sich mit einem möglichen Behördenversagen auseinandersetzen – in Schraders Augen ein Versuch, die Forderung nach einem Untersuchungsausschuss zu beschwichtigen. »Aber sie konnten eben nicht in dem Umfang eines Untersuchungsausschusses Aufklärung leisten.« Dementsprechend enttäuscht äußerten sich Betroffene über den Abschlussbericht der Kommission, der nach zweijähriger Recherchearbeit 2021 erschien. Der Bericht kritisierte zwar das Vorgehen der Sicherheits- und Justizbehörden, attestierte ihnen aber kein systematisches Versagen aufgrund rechtsextremer Netzwerke.

Währenddessen forderten Betroffene immer offensiver einen Untersuchungsausschuss ein: Sie demonstrierten regelmäßig und überreichten im Dezember 2019 den Regierungsfraktionen eine Petition mit über 25 000 Unterschriften. Zu einer Veranstaltung des Rudower Bündnisses »Rudow empört sich« im September 2021 war auch die heutige Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) eingeladen. »Dort wurde öffentlich von ganz vielen, auch von bürgerlichen Menschen, ein Untersuchungsausschuss gefordert und Frau Giffey konnte gar nicht anders als zu sagen: ›Den machen wir‹«, sagt Schrader.

Am 25. November 2021 einigten sich Grüne, Linke und SPD während der Koalitionsverhandlungen auf einen Untersuchungsausschuss. Am 5. Mai 2022 beschloss das Abgeordnetenhaus die Einsetzung des Ausschusses. Dass dazwischen noch einmal fast ein halbes Jahr lag, hängt mit einer kontroversen Besetzungsfrage zusammen. Gesetzlich ist die Mitgliedschaft aller Fraktionen im Untersuchungsausschuss vorgesehen – also auch die der AfD. Im Abgeordnetenhaus wurden beim dritten Versuch die AfD-Abgeordneten Antonin Brousek und Karsten Woldeit wohl auch mit Stimmen aus den Regierungsfraktionen in den Ausschuss gewählt.

Den Umstand, gegenüber der AfD von den Naziangriffen berichten zu müssen, bezeichnet von Gélieu als »eine unerträgliche Situation«. In der Ausschusssitzung stellt Brousek dann auch tatsächlich eine Nachfrage, die nicht nur von Gélieu empört: Woher sie denn wisse, dass die Täter mit dem Anzünden ihres Autos einen Hausbrand in Kauf genommen hätten? Von Gélieu bleibt ruhig, aber die Wut ist ihr anzusehen.

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