Der Präsident ruft, aber keiner will hören

Frankreichs Linke boykottiert Nationalrat und wirft Macron Umgehung des Parlaments vor

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Anfang Juni hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron Großes verkünden wollen und in einem Interview gar von einem seiner wichtigsten Projekte in seiner zweiten Amtsperiode als Staatspräsident gesprochen: Der sogenannte »Nationalrat für Erneuerung« tritt nun am heutigen Donnerstag zu seiner ersten Sitzung zusammen, und zwar in Marcoussis, einer Kleinstadt der Pariser Region.

In diesem Conseil national de refondation (CNR) genannten Gremium sollen repräsentative Vertreter von Parteien, Organisationen, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden sowie Abgeordnete der verschiedensten Ebenen sowie per Los ausgewählte Bürger zusammenkommen. Ihre Aufgabe: über eine »Neubelebung der angeschlagenen Demokratie« sowie über Lösungsmöglichkeiten für zum Teil dramatisch herangereifte Probleme auf Gebieten wie Ökologie, Bildung, Beschäftigung, Gesundheit oder Altenbetreuung beraten. Die CNR-Vertreter sollen anschließend der Regierung Lösungsvorschläge für die identifizierten Punkte unterbreiten.

Anleihe bei der Résistance

Auf der Tagesordnung der ersten Sitzung des CNR stehen eine Bestandsaufnahme der finanziellen Lage Frankreichs durch den Präsidenten des Rechnungshofes, Pierre Moscovici, und der Ökonomie des Landes durch den Präsidenten der Banque de France, François Villeroy de Galhau, sowie ein Vortrag über die Herausforderungen des Klimawandels durch die Präsidentin des Nationalen Klimarats, die Wissenschaftlerin Corinne Le Quéré.

Wie Macron eingeräumt hat, will er mit dem Titel des neuen Gremiums an den »Nationalrat der Résistance« (CNR) erinnern, in dem antifaschistische Widerstandskämpfer aller politischen Lager zusammengeschlossen waren und der im März 1944 einstimmig ein Programm für die politische, wirtschaftliche und soziale Neugestaltung eines demokratischen Nachkriegs-Frankreichs beschlossen hatte.

Von diesem Programm wirken nicht wenige Elemente bis in die Gegenwart, vor allem jene, die die soziale Absicherung der Franzosen betreffen. Die Situation heute sei ähnlich, meinte Macron in dem Interview. »Wir leben in einer historischen Ära, die eine gründliche Umgestaltung aller Modelle erfordert, und außerdem haben wir in Europa wieder einen Krieg.« Macrons Neugründung CNR ist wohl nicht zuletzt eine Reaktion auf die Vorwürfe eines »vertikalen« Regierungsstils, der die Bürger und das, was sie bewegt, zu wenig einbeziehe. Jetzt will Macron demonstrieren, dass er durchaus auch bereit ist, »horizontal« zu regieren, und dabei Anregungen von allen Seiten akzeptiert. Der CNR ist aber auch ein Eingeständnis des Präsidenten, dass es ihm nicht gelungen ist, einen »Geist der Eintracht« durchzusetzen und die Nation zu »befrieden«, in der »Streitigkeiten und Scharmützel dominieren«, wie er Ende August in einem anderen Interview feststellte.

Davon zeugt nicht zuletzt, dass Macrons Initiative bei allen Oppositionsparteien und vor allem dem linken Parteienbündnis Nupes sowie bei fast allen Gewerkschaften auf scharfe Kritik oder glatte Ablehnung stößt. Die meisten von ihnen haben bereits erklärt, dass sie die Einladung ausschlagen und das Gremium boykottieren. Übereinstimmend werfen sie Macron vor, das wichtigste demokratische Forum, das Parlament, zu umgehen, weil er dort seit der letzten Wahl nicht mehr über die nötige Mehrheit zur unangefochtenen Durchsetzung seiner Vorstellungen verfügt.

Macrons Demokratieverständnis

Als »Zeichen einer Demokratie, wie Macron sie versteht«, wertet Mathilde Panot, Fraktionsvorsitzende von La France insoumise in der Nationalversammlung, den vor einer Woche abgehaltenen Verteidigungsrat im Elysée zur aktuellen Energieversorgungskrise: Der Öffentlichkeit seien nur Bruchstücke mitgeteilt worden, während der übergroße Teil des Inhalts mit Verweis auf den Krieg in der Ukraine unter militärische Geheimhaltung falle. Ein weiteres Zeichen von Macrons Verständnis von Demokratie sei auch, dass die Regierung bereits angekündigt habe, das Budgetgesetz für 2023 in der Nationalversammlung notfalls mit Hilfe des Artikels 49.3 der Verfassung durchzusetzen, indem sie die Abstimmung mit der Vertrauensfrage verbinde.

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