• OXI
  • Sozialökonomie

Gemeinschaftswerte

Sozialökonomie erforscht die vielfältigen Gründe, nicht nur in die eigene Tasche zu wirtschaften

  • Gertraude Mikl-Horke
  • Lesedauer: 5 Min.
Wirtschaft muss als sozialer Zusammenhang verstanden werden, sagt die Sozialökonomie.
Wirtschaft muss als sozialer Zusammenhang verstanden werden, sagt die Sozialökonomie.

Forderungen nach einer anderen Ökonomie, einer ethischen Ökonomie, die Werte und Gemeinschaftsziele berücksichtigt, verwenden mitunter auch die Begriffe von Sozialökonomie und Sozioökonomie. In der Geschichte finden sich diese Begriffe in sehr unterschiedlichen sozialreformerischen, liberalen, sozialistischen und konfessionellen Bedeutungen. Die Sozialökonomie wird zudem mit der klassischen Nationalökonomie in Verbindung gebracht, denn auch Adam Smith› Wirtschaftslehre stand auf dem Boden der Moralphilosophie. Aber auch manche, oft als neoliberal bezeichnete Wirtschaftstheoretiker verstanden die Wirtschaft als gesellschaftlich eingebunden, so etwa der österreichische Ökonom Friedrich von Wieser, dessen »Theorie der gesellschaftlichen Wirtschaft« in der amerikanischen Ausgabe den Titel »Social Economics« erhielt. Wieser hatte darauf hingewiesen, dass auch das Verfolgen individueller gewinnorientierter Interessen auf einem historischen Prozess der moralischen Akzeptanz in der Gesellschaft beruht. Wirtschaften ist ihm zufolge gesellschaftliches Handeln und beruht auf kulturell und sozial geprägten Bedürfnissen, auf Interessen an Einkommen und Gewinn, aber auch auf Recht und Sitte sowie auf gesellschaftlicher Schichtung und auf Machtkonstellationen.

OXI – Wirtschaft anders denken

Nicht-ökonomistische Ethik – was ist das denn? Verteilung, Mindestlohn, Care, Gerechtigkeit, Suffizienz, Subsistenz, normative wirtschaftsethische Fragen, geschlechterbewusste Wirtschaftsethik … Klingt alles ziemlich kompliziert.

In der nächsten Ausgabe wollen wir, so der Ehrgeiz, verschiedene wirtschaftsethische Konzepte möglichst allgemeinverständlich vorstellen. Denn klar ist: Wirtschaft ohne ethische Grundsätze ist dem Menschen nicht sonderlich zugewandt.

Die Ausgabe kommt am 9. September zu den Abonnent*innen, am 10. September liegt sie für alle, die ein »nd.DieWoche«-Abo haben, exklusiv bei.

In der Gegenwart verweist der Begriff der Sozialökonomie zum einen auf die empirische Tatsache, dass wirtschaftliches Verhalten nicht nur »ökonomisch« motiviert ist, zum anderen auf die Existenz bzw. die Befunde über die sogenannte Sozialwirtschaft und den Dritten Sektor nicht gewinnorientierter Wirtschaftsformen neben dem Markt und dem Staat. Mitunter wird unter »Sozialökonomie« auch eine Reform des Wirtschaftssystems im Sinne einer Wirtschaft, die sich am Gemeinwohl orientiert, einer Marktwirtschaft ohne Kapitalismus, eines Dritten Weges zwischen Liberalismus und Sozialismus oder einer neuen ökosozialen Ordnung verstanden. Diskurse über Sozialökonomie stehen dabei in enger Beziehung zu jenen über Wirtschaftsethik, aber auch zu sozialen Ideologien, konfessionellen Orientierungen oder gewerkschaftlich-genossenschaftlichen Konzepten.

In der Gegenwart ist der international bekannteste Ansatz einer Ökonomie, der Gemeinschaftswerte berücksichtigt, jener von Amitai Etzioni. Er kritisiert die innerhalb der modernen Nationalökonomie nach wie vor dominierende Auffassung von einem eigendynamischen Markt, der auf individuellen Eigennutzmotiven beruht und dessen Normativität sich auf »rein ökonomische« Ziele wie Gewinnmaximierung, Kapitalzuwächse, BIP-Wachstum etc. richtet. Werte und Moral, die sich auf die Gemeinschaft beziehen, kommen darin entweder nicht vor oder haben nur eine funktionale Bedeutung zum Zweck der Erreichung der ökonomischen Ziele. Die »moral dimension« der Gemeinschaftsziele gehe, so Etzioni, daher nicht in den Zielkatalog der Ökonomie ein. Sein Konzept der Sozioökonomie enthält demgegenüber neben den ökonomischen Zielen auch Gemeinschaftsziele, was er als »I-&-We-Prinzip« bezeichnet. Seine Initiative führte zu der 1999 beschlossenen »Madison Declaration on the Need for Socio-Economic Research and Theory«, in der zwar der Orientierung am Markt und der Erforschung seiner effizienten Funktionsweise zentrale Bedeutung zugeschrieben wird, aber »der Markt« wird als »eingekapselt« in einen gesellschaftlichen Kontext verstanden, der Werte, Machtbeziehungen und soziale Netzwerke umfasst.

Etzionis Ansatz bleibt allerdings der gedanklichen Konstruktion einer Differenzierung in »rein wirtschaftliche« und in soziale oder ethische Ziele verhaftet und versucht, beide unabhängig voneinander zu bestimmen. Dabei wird nur zu oft vergessen, dass nicht nur Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Gemeinwohl etc. auf Wertungen beruhen, sondern auch Effizienz, Marktfreiheit, Wettbewerb etc. gesellschaftlich akzeptiert und als moralisch legitim betrachtet werden müssen. In der Realität gehen sozialethische Werte und Ziele neben irrationalen und affektiven Reaktionen in die Entscheidungen und Handlungsweisen der wirtschaftenden Menschen, also von uns allen, ein, sind mitunter sogar zielbestimmend. Ebenso bei den Entscheidungen von CEOs von privaten Unternehmen spielen moralische Erwägungen und Überlegungen hinsichtlich der sozialen und politischen Beziehungen und Verhältnisse eine Rolle, müssen sich zwar im Sinne der »bottom line« rentieren, was aber wieder von Entscheidungen und Verhaltensweisen anderer Wirtschaftsteilnehmer abhängt. Konsument*innen bzw. private Haushalte »entscheiden« daher jeden Tag mit über das kollektive wirtschaftliche Ergebnis, und sie handeln nicht nur affektiv und habituell, sondern auch zweckrational und wertrational. Wirtschaftspolitiker müssen zahlreiche nicht-ökonomische Faktoren mitberücksichtigen, denn davon hängt vielfach auch ihr politisches Schicksal ab.

Es gibt daher eine Reihe anderer sozialwissenschaftlicher Ansätze, die der Komplexität des Wirtschaftlichen durch die multi-disziplinäre Erweiterung der Datenbasis der Ökonomie durch psychologische, soziologische, kulturanthropologische, politische Aspekte oder durch eine Ergänzung durch sozialideologische, religiös-ethische oder politisch-pragmatische Elemente zu entsprechen suchen.

Im Grunde muss es einer Sozialökonomie oder Sozioökonomie darum gehen, Wirtschaft als einen dynamischen sozialen Zusammenhang von Beziehungen zu verstehen, denn wirtschaftliches Handeln ist soziales Handeln, in dessen Verlauf wir einander gegenseitig beeinflussen und verändern. Ziele und Werte entwickeln und verändern sich durch die Interaktionen zwischen den Akteur*innen und unter dem Einfluss von äußeren Bedingungen und Ereignissen. Ein realistischer Blick auf die tatsächlichen Wirtschaftsabläufe ohne die notwendig einseitig simplifizierenden Theorien und Modelle lässt erkennen, dass Ethik und Wirtschaft, wie auch Kultur, Gesellschaft, Politik und Staat auf der Ebene des praktischen Handelns, der Beziehungen zwischen Gruppen, Organisationen, Staaten und auf der globalen Ebene zusammenwirken, was allerdings auch Gegensätze, Widersprüche und Konflikte bedeutet. »Gemeinschaftsziele« existieren nicht einfach, und sie lassen sich nicht ohne Auseinandersetzungen bestimmen, zumindest nicht in demokratischen Systemen. Die moralische und normative Grundlage des wirtschaftlichen Handelns ändert sich daher immer wieder. Gegenwärtig stehen neben der Kritik an der ökonomischen Ungleichheit insbesondere die Werte von Nachhaltigkeit und globaler Solidarität im Vordergrund. Damit verändern sich auch die Akzeptanzbedingungen wirtschaftlichen Handelns und die Formen der sozialen Beziehungen im Wirtschaftsprozess laufend, allerdings eben in einem schwierigen Prozess gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, medialer Beeinflussungen und politischer Machtspiele.

Sozialökonomie ist daher nicht nur eine Ergänzung oder Erweiterung »der Ökonomie« durch Sozialwirtschaft oder durch nicht-ökonomische Aspekte, sondern verweist darauf, dass wir uns immer wieder fragen müssen, wie Wirtschaft real vor sich geht und welche Voraussetzungen und Folgen das hat. Das erfordert über die Befreiung von dem Verständnis von Wirtschaft als einer rationalen und »wertfreien« Sphäre rein ökonomischer Eigendynamik hinaus die Einsicht in die Komplexität der Beziehungen und Wechselwirkungen auf allen Ebenen des Wirtschaftens.

Gertraude Mikl-Horke ist Professorin für Allgemeine Soziologie und Wirtschaftssoziologie an der Wirtschaftsuniversität Wien. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählt unter anderem auch die Japanische Gesellschaft und Wirtschaft.

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