nd-aktuell.de / 12.09.2022 / Kommentare / Seite 1

Nachsitzen in der Kita

Christoph Ruf erinnert sich an Helmut Kohl und dessen Weltbild, das für manche inmitten eines Krieges gar nicht so veraltet zu wirken scheint

Christoph Ruf

Es ist nichts Neues, dass Teenager die Generation vor ihnen mit Befremden betrachten. Manchmal hat das auch politische Gründe. Wer Mitte, Ende der Achtziger im Westen politisch mündig wurde – also in jenem Teil, der sich damals wie heute als das eigentliche Deutschland fühlt – musste beispielsweise einen tumben, merkwürdig verwaschen sprechenden Mann ertragen, dem man beim besten Willen nicht zutraute, beim Essen Messer und Gabel zu benutzen oder seine Blähungen im Griff zu haben. Doch das war nicht der Grund, warum man abends um acht mit zitternden Fingern den Fernseher anmachte, wenn der Mann ins Ausland reiste. Helmut Kohl pflegte schließlich gerne einmal ein diplomatisches Schlammbad im Fettnapf zu führen. Dann ging er mit dem debilen amerikanischen Präsidenten zu den Gräbern von SS-Leuten oder verglich Michail Gorbatschow mit Joseph Goebbels. Als die DDR kollabierte, drehte Kohl [1]dann endgültig durch, er glaubte offenbar allen Ernstes, er habe irgendeinen Anteil am Mauerfall und erhob jede Inbetriebnahme einer saarländischen Umgehungsstraße zum welthistorischen Akt. Fortan sprach er vom »Mantel der Geschichte«, der irgendwo wehe, wenn besagter nicht gerade mit ihm in den »Bahnhof der Geschichte« einfuhr. Das völlige Fehlen jeglichen nationalen Überschwangs lag bei mir und meinen Freunden möglicherweise auch an gravierenden Bildungslücken. Ich wusste 1989 nicht so genau, wo die Saale liegt, und schon gar nicht, was es mit diesem Halle auf sich haben könnte. Wir hätten im Atlas nachschauen müssen. Und taten es nicht. Ich glaube, den Teenager Brüdern und Schwestern aus der DDR ging es bei Trier und der Mosel nicht anders.

Wenn ich in letzter Zeit wieder häufiger an den bräsigen Kanzler denke, hat das weniger mit dessen Tölpeleien zu tun, als damit, dass der Goebbels-Vergleich natürlich nicht von ungefähr, sondern aus den Untiefen einer westdeutschen Selbstgefälligkeit kam, die im Verhältnis zur Sowjetunion zwei starke Quellen hatte: Einen völlig unreflektierten, blinden Antikommunismus, der die tatsächlichen Verbrechen der Stalin-Ära gar nicht brauchte, um sofort loszugeifern, sie solle doch »rübergehen«, wenn ein braves Mütterchen so ihre Zweifel an der Hochrüstung hatte. Und zum anderen eine Sicht auf Osteuropa, die von einem nie hinterfragten, durch und durch rassistischen Überlegenheitsgefühl gespeist wurde. Im CDU-/CSU-Spektrum wurde das so auch unverhohlen artikuliert. Hier herrschte in Anlehnung an Reagans »Reich des Bösen« ein infantiles Gut-und-Böse-Denken, das derzeit wieder fröhliche Urstände feiert. Man kann heute auch in seriösen Medien wieder allen Ernstes behaupten, die USA stünden für »Freiheit« und bekämpften »das Böse«, ohne gebeten zu werden, noch mal in der Kita nachzusitzen. In dem Spektrum, das sich für progressiv hält, äußerte und äußert sich der Anti-Ost-Affekt etwas subtiler. Schon in den Neunzigern fiel auf, dass die gleichen Leute, die sich – wie es damals hieß – »gegen Ausländerfeindlichkeit« engagierten, mit der gleichen Verachtung und dem gleichen Vokabular über »Russlanddeutsche«[2] sprachen, wie es die Rechten über die Türken taten. Die »fucking postkoloniale Westbrille«, die der weise Kollege Frank Willmann hier auch schon beschrieben hat[3], scheint derzeit wieder schwer in Mode zu sein. Vollstes Verständnis, wenn man Putins Angriffskrieg und seine Propagandalügen angemessen scharf kommentiert. Aber wie ist es zu erklären, dass aus so vielen Posts und Leser-Kommentaren eine regelrecht sadistische (Vor-) Freude darauf herauszulesen ist, dass die Russinnen und Russen vielleicht bald hungern und leiden müssen? Kann man es wirklich ernsthaft anders sehen als Gregor Gysi, der sagte, es könne »doch nicht ernsthaft unser Ziel sein, dass es der russischen Bevölkerung schlecht geht«? Millionen von Gysis Landsleuten können das ganz offensichtlich. Helmut Kohl ist tot, aber sein Weltbild ist derzeit gesellschaftsfähiger als am Ende seiner Kanzlerschaft.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165071.antiautoritaere-erziehung-weinen-um-kohl.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165856.antislawismus-russlanddeutsch-bin-ich-erst-in-deutschland-geworden.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1166597.fussball-in-osteuropa-warum-ich-osteuropa-begehre.html