Den Einsamsten frag, was Kino sei

Zum Tod des großen Filmregisseurs Jean-Luc Godard

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.
Assoziative Fantasie und Rigorosität: Catherine Duport, Jean Pierre Leaud und Jean Luc Godard (r.) 1966 bei den Dreharbeiten »Masculin, Feminin«
Assoziative Fantasie und Rigorosität: Catherine Duport, Jean Pierre Leaud und Jean Luc Godard (r.) 1966 bei den Dreharbeiten »Masculin, Feminin«

Augenmaß? Das Siegel trifft’s nicht. Maß? Das lässt an Mäßigkeit denken. Oder Mäßigung. Jean-Luc Godard sah Mäßigungen nicht ein. Er stürmte sie weg, ganz langsam. Ja, er hat den Stürmen die Langsamkeit beigebracht. So konnte man sie wehen sehen. Kino eben. Seine Filme – hochintelligente, bewusst rätselhafte Bildessays – sind Gedankenschnitte durch die Zeiten. Godard war so etwas wie der verkörperte Aufstand ungebundener, aber verbindlicher Arbeit – gegen die Dämonie der kapitalistischen Vernutzung. So war er attraktiv und frei geworden – und geblieben.

In Seine Filme (»Die Chinesin«, »Der kleine Soldat«, »Maria und Joseph«) sind antiklerikale Attacken, Verdammnisse des Krieges, Anklagen der Korruption, Plädoyers für Algerien und Palästina. Der Idee des Revolutionären, des Weltstürzenden hing er an, weil es eine niemals und nirgends siegende Idee ist; er beschwor mit Leidenschaft und geradezu ausuferndem, flirrendem Geist die Nähe zu allem Unstillbaren. Das Krude, das Böse, das konstant Ausbeuterische waren ihm die Garantie dafür, dass die aufrührerischen, die empörten, die maßsprengenden Bilder des kritischen Geistes ausdauernd Nahrung erhielten. Vielleicht in der Art, wie es Jean Genet formulierte: »Das einzige, was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Der nie kommen möge, damit diese Sehnsucht revolutionär bleiben kann.«

Der Durchschaubarkeit entwand sich dieser letzte Autonome des Weltkinos in Würde und mit Mut. Er hasste Imperien, er war anarchisch und scheu zugleich. Sprache und Bild waren ihm nicht Vermittler und Kopie von fremder Wirklichkeit, sondern eine sehr eigene Realität. Das macht die Abgeschlossenheit des Werkes aus, seinen Sog jenseits aller Effekte. Er filmte fern der Welt eines aggressiv nichtssagenden Informationsaustauschs. Er mied diese grassierende Intelligenz, die uns mit ihren Schlingkräften der Vernetzung von wirklichen Passionen abriegeln will. Godards Kino ist Kino gegen eine Kultur der optischen Vergewaltigungen, von denen Botho Strauß schreibt: »Alles, auch Film, wird unseren Sinnen aufgedampft, als wären sie schon starr wie ein Karosserieblech.« Sie sind starr, so viel Blech, was da glänzt.

1930 geboren, im Reichtum einer Bankiersfamilie aufgewachsen (die Eltern Nazi-Kollaborateure), wurde er ein Ortloser zwischen Frankreich und der Schweiz, ein studierter Ethnologe und dann zehn Jahre Filmkritiker. Mit den Nouvelle-Vague-Mitbegründern Francois Truffaut, Jacques Rivette und Eric Rohmer hatte er die Filmzeitschrift »Cahiers du Cinéma« gegründet. Er wurde Mitbegründer des Autorenfilms, aber verweigerte sich der charmanten Geschmeidigkeit, mit der Frankreichs Kino immer schon brillierte.

»Außer Atem« wurde 1960 zum Jahrhundertfilm: elegische Gangsterstory und zugleich eine ironische Ode an den Stil; das Melodram vereinte sich mit jenen Straßen- und Stadtszenen, die Ästhetikgeschichte schrieben. Heiterkeit, Grimassenlust, beides entwickelt in einer Schule des Schmerzes. Der gejagte Kleinkriminelle Michel und die US-Amerikanerin Patricia, eine Sternschnuppenliebe in Paris. Godard schuf eine der berührendsten Sterbeszenen der Filmgeschichte. Michel irrt angeschossen durch die Stadt, bricht zusammen. Er schaut auf Patricia, die ihn an die Polizei auslieferte: »Du bist zum Kotzen!« Die junge US-Amerikanerin fragt: »Was heißt das, kotzen?« Wendet sich um und ab. Die Liebe nicht erkaltet, sondern hochgefiebert zum Verrat.

Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg hatten Godards Geist in ihre Körper geholt: innig zu sein und zugleich eine gar zu tiefe Einfühlung in Geschichte und Gestalt hart zu verweigern. Ein höchst schöpferischer Gewaltakt, um Menschen in einem Film auszusetzen wie in einem Dschungel: Sei, was du kannst, aber sei vor allem verloren und fremd in dem, was du betreibst. Sterbend liegt Belmondos Michel auf dem Straßenpflaster. Schließt sich selber die Augen. Jean-Paul Belmondo: Sein Spiel offenbarte einen geradezu kreatürlichen Widerstand gegen den Action-Helden einer maschinell gearteten Kino-Moderne. Er setzte dagegen: den fläzigen Charme eines Berührbaren. Mut ist Notwehr, Flucht ein Tempotanz.

Mehr und mehr kappte der Regisseur in seinen Filmen Handlungsbögen. Erzählung wurde Fragment. Ort und Zeit lösten sich in Assoziationsströme auf (»Film socialisme« und »Adieu au langage«). Mythisierung und Marginalisierung vollzogen sich zeitgleich. Das »Bildbuch«, ein spätes Werk gegen den Terrorismus und seine perversen Steigerungen, die mit dem IS verbunden sind, in Cannes mit einer Sonder-Palme ausgezeichnet, verzichtet überhaupt auf handelnde Personen.

In »Weekend« aus dem Jahr 1967 hatte Godard begonnen, die herkömmliche Erzählstruktur radikal aufzulösen. Ein Film über den Wochenendausflug eines Ehepaars. Der Künstler schloss sich mit Gier aus, ohne jedes Selbstmitleid, ohne jeden Zynismus. Den Einsamsten im Saal frag, was Kino sei. Sollten sie ihm einen Oscar verleihen, aber bitte ohne ihn. »Würden Sie denn so einen weiten Weg für ein bisschen Metall auf sich nehmen?«

1968, das allgemeine Aufbruchsdatum. Es ist für den Regisseur der Rückzugsbeginn vom Kommerzsektor, für zehn Jahre – Godard wird experimenteller Essayist abseits der Großkinos. Auf den ersten Blick schien es, er reihe sich ein in den strohdünnen wie strohtrockenen Extremismus maoistischer Einfältigkeit. Aber Black Panther als Gewalt-Eskapade (»One plus One«) oder Revolutionsparolen ausgerechnet in einem Schlachthof und aus den Mündern blutbesudelter Tiermörder (»Tout va bien«). Das war gequältes Bewusstsein und tief sitzender Zweifel an einem Geist, der unterm Deckblatt von Antifaschismus, sinnlicher Befreiung und klassenkämpferischer Entfesselung nur neue Schraubzwingen feilte.

Dass er einen Film über die Rolling Stones drehte, besaß Logik: Man gerät bei denen in einen Wirbel des Einverständnisses mit allem Unkorrekten. Sie haben mit ihrem Werk stets daran erinnert, dass es zwischen den Geschlechtern etwas unwiderlegbar Dschungelhaftes und Kriegerisches gibt. Jagger, dieses Maul, dieser Mundvierkant, er macht plausibel, was dem Film den Titel gab: »Sympathy for the Devil«. Gitarristenkrokodile, Lebenswundmale, Verausgabungsriesen; ein Ausdruckswillen zwischen Oscar Wilde im Körper und Arthur Rimbaud im Gemüt. Gesichter, denen schon ein Dante seine Qualfratzen abschaute. Das gefiel Godard. Alles mitgenommen, alles durchgenommen, alles hergenommen, alles hochgerissen, alles runtergerissen, alles verlangt, alles erlangt, but no Satisfaction. Was kann man mehr erwarten vom Leben.

Die assoziative Fantasie und Rigorosität haben den Regisseur, mit seinen über 90 Arbeiten, auch zu einem ungemein Anstrengenden gemacht, zu einem krass Monomanen, zu einem Peinigenden, der keine Rücksichten nimmt, der überwach bleibt, wo etwas in die Dummheit kippt, und immer kippt etwas (immer viel zu viel!) zurück in die Dummheit, und er hat erfahren: Wer anders programmiert ist, gerät unweigerlich unter den Verdacht der Neider und Beschränkten, denn immer meint jeder, alles verstehen zu müssen und es in seinem eigenen Weltbild kleindrücken zu können. Dagegen wurde er zum rebellischen Katholik des Kinos.

Nun ist Jan Luc Godard, der Zurückgezogene vom Genfer See, im Alter von 91 Jahren gestorben.

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