nd-aktuell.de / 14.09.2022 / Kultur / Seite 1

Das Elend vor der Tür

Keine Mythen: Der Dokumentarfilm »Europa Passage« von Andrei Schwartz zeichnet ein realistisches Bild von Roma in deutschen Städten

Nicolai Hagedorn
Bittere Realität in "Europa Passage": Die erbettelten zehn, 15 Euro sind die Rettung vor dem Verhungern.
Bittere Realität in "Europa Passage": Die erbettelten zehn, 15 Euro sind die Rettung vor dem Verhungern.

Jede*r, der in einer der größeren deutschen Städte wohnt, dürfte die Geschichten, das Geraune darüber kennen, was mit den schmutzigen, wettergegerbten Menschen ist, die vor den Kirchen, Aldis, Nettos und vor Bahnhöfen und vor Malls wie der Hamburger »Europa Passage« in ihren schmutzigen alten Klamotten auf dem Boden sitzen und um ein paar Groschen betteln. Früher wurde das Z-Wort benutzt, heute heißt es, es seien Roma, jedenfalls gehörten sie zu Mafia-Clans, würden abends von ihren reichen Bossen abkassiert. Die Frauen würden von ihren Männern zum Betteln gezwungen, prostituierten ihre Kinder, und sie würden immer mehr – an Urban Legends und Vorurteilen über die »Bettlerfamilien« herrscht kein Mangel.

Nun hat sich der rumänischstämmige Dokumentarfilmer Andrei Schwartz den Betroffenen filmisch genähert, hat eine Gruppe Roma, deren Mitglieder zwischen dem rund 150 Kilometer nordwestlich von Bukarest gelegenen Dorf Namaiesti und Hamburg pendeln, fünf Jahre lang begleitet und sie in seinem Film »Europa Passage« porträtiert. Schwartz begibt sich damit in eine Welt, von der der deutsche Durchschnittskonsument nichts weiß und nichts wissen will, die ihm fremd, dunkel und gefährlich erscheint. Indem der Film Licht in die Sache bringt, zeigt er einen großen Teil des Ausmaßes an Verelendung selbst innerhalb Europas, aber auch die teilweise unfassbare Erbärmlichkeit deutscher Behörden, die keine 80 Jahre nach dem von Deutschen verantworteten Massenmord an den Roma diese auch heute noch lieber erfrieren lassen, als ihnen auch nur Zugang zu städtischen Notunterkünften zu gewähren. Selbst die freundliche Dame einer Hamburger Kirchengemeinde, die letztlich Tirloi, einem der Protagonisten des Films, Unterschlupf gewährt und ihm ein kleines Zimmer mit Bad organisiert, steht vor so viel Unmenschlichkeit kopfschüttelnd: »Unfassbar«, sagt sie und liest murmelnd die Begründung für die Vertreibung der Roma von einem Schlafplatz unter einer Brücke: »Sie verstoßen gegen geltendes Recht.«

Die wirkliche Armut, das wird in dem Film sehr deutlich und das macht ihn unter anderem so traurig, besteht in der totalen Ignoranz der Wohlstandsgesellschaften gegenüber dem von den kapitalistischen Zentren, also ihnen selbst, auf mannigfaltige Weise verursachten Elend auf der übrigen Welt. Dabei liegt Regisseur Schwartz an sensationsheischender Skandalisierung der Verhältnisse noch nicht viel, er hört vor allem den Menschen zu, die im Mittelpunkt seines Films stehen.

»Seit dem Wegfall des Kommunismus geht’s uns schlecht«, erzählt der Handwerker Ion, der mit seiner Frau Nina in Hamburg Passanten um Geld bittet: »Die Not und die Verelendung haben mich gezwungen, hierher betteln zu kommen. Ich war nicht gewohnt zu betteln, sondern zu arbeiten. Ein Arbeiter. Ich fühle mich wie ein Versager.« Und ein anderer bringt den Zustand des Spätkapitalismus auf den Punkt, wenn er die Situation in der rumänischen Heimat so beschreibt: »Bei uns sind alle Fabriken kaputt. Die Jeep-, die Textilfabrik und auch das Werk. Die ganzen Fabriken in unserer Gegend sind eingegangen. Nur das Zementkombinat Holcim funktioniert, das einem Deutschen gehört. Dort arbeiten aber nur noch Fachleute, die diese elektronischen Anlagen bedienen können.« Und so kommen sie zum »Arbeiten« nach Deutschland, sitzen vor den Einkaufspassagen und bitten um Geld. »Ohne diese zehn, 15 Euro hier wären wir verhungert.« Kaum verwunderlich also, dass der freundliche Tirloi, der mit seiner Frau Maria in Deutschland mehr Geld erbetteln als in der Heimat erarbeiten kann, erklärt, in Deutschland sei es für ihn »tausendmal besser« als im Heimatdorf.

Auch dieses wird von Schwartz gezeigt. Dass mitten in Europa im Jahr 2022 ein Ort wie Namaiesti existiert, der aussieht wie die Fantasie eines Märchenfilmregisseurs, der für seine Brüder-Grimm-Verfilmung auf ein mittelalterliches Setting zurückgreifen will, ist dann doch auch für den hartgesotteneren Zuschauer beklemmend. In dem Dorf, aus dem Maria und Tirloi kommen, fahren statt Autos Pferdewagen, sogar primitive Werkzeuge wie Äxte sind selbst zusammengeschraubt und die Menschen leben ohne eigenes Bad zum Teil mit mehreren Kindern in einem kleinen Raum. Durch Namaiesti fließt ein kleiner, völlig vermüllter Fluss, die einzige Einnahmequelle der Menschen hier ist die Herstellung von Besen, die aus Ruten und Zweigen zusammengebunden und verkauft werden.

So folgt der Film seinen beiden Protagonisten in ihrem Kampf gegen die Armut und darum, den kommenden Generationen eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Denn darum geht es Maria, Tirloi und den anderen in erster Linie: Die Kinder sollen »keine Analphabeten werden wie wir«, und sobald die Möglichkeit besteht, bemühen sich Maria und Tirloi, die Enkelin nach Deutschland zu holen.

»Europa Passage« ist ein großartiger, fesselnder und berührender Dokumentarfilm, der mit manchem Mythos über »die Roma« aufräumt und ein realistisches Bild von den Menschen zeichnet, die inzwischen das Stadtbild deutscher Städte mitprägen. Er zeigt sie als Menschen mit Familien, mit vielen Sorgen und Nöten, aber auch mit Zuversicht und einem zum Teil sehr erfreulich sarkastischem Humor. Als zwei von ihnen auf dem Dach neben einer S-Bahn-Station ein geeignetes Schlafversteck für die Nacht finden, verkündet einer: »Auf zum 5-Sterne-Hotel, andere würden dafür ein Mordsgeld zahlen. Die gemütliche Stimmung genießen, ich bin extra dafür angereist.« Und mit der Antwort: »Du hast dich für den Penner-Beruf qualifiziert. Wolltest nichts Gescheites lernen«, schlafen die beiden Männer auf dem Dach ein.

»Europa Passage«: Deutschland 2021. Regie/Buch: Andrei Schwartz. Start: 15.9.