nd-aktuell.de / 14.09.2022 / Kultur / Seite 1

When the music is over (doch nicht)

Der Überlebende Luz kann wieder Musik hören: Er hat »Vernon Subutex« von Virginie Despentes zur grandiosen Graphic Novel gemacht

Niko Daniel
Eingehen mit der Musikindustrie, wie wir sie einmal kannten und geil fanden: Vernon Subutex
Eingehen mit der Musikindustrie, wie wir sie einmal kannten und geil fanden: Vernon Subutex

Der Zeichner Luz hat 25 Jahre für »Charlie Hebdo« gearbeitet. Das islamistische Killerkommando, das am 7. Januar 2015 die Redaktion des Pariser Satiremagazins stürmte und zwölf Menschen umbrachte, hat er nur deshalb überlebt, weil er an diesem Tag zu spät zur Arbeit kam. Er hatte verschlafen, es war sein Geburtstag. An diesem Tag kamen auch zwei Romane heraus: »Unterwerfung« [1]von Michel Houellebecq, eine Satire über die demokratische Machtübernahme der Islamisten in Frankreich. Das war der rechte Flügel der französischen Literatur. Und »Vernon Subutex« [2]von Virginie Despentes über den Untergang des freien Hipstertums im beginnenden 21. Jahrhundert. Das war der linke Flügel. Bei aller Verhöhnung des Islam (und von Religion überhaupt) – »Charlie Hebdo« war immer eine linke Zeitung.

Luz zeichnete die erste Titelseite nach dem Massaker: Eine weinende Mohammed-Karikatur sagt »Alles ist vergeben« und hält ein Schild, auf dem steht: »Je suis Charlie«. Das wurde zur weltweiten Solidaritätsparole. Luz war danach in einer schweren Krise. Er verließ die Zeitung, weil er es nicht aushielt, dass seine Kollegin*innen nicht mehr da waren. Jetzt hat er aus »Vernon Subutex« eine grandiose, bildmächtige Graphic Novel gemacht.

Sie handelt von dem Verschwinden eines arbeitslosen Plattenhändlers aus dem sozialen Leben in den Nullerjahren. Vernon verliert seinen Laden, seine Wohnung, bis er schließlich als Bettler auf der Straße lebt. Seine coolen Freunde sind entweder tot oder sehr frustriert. Drogen, Sex und große Reden halten bringen es nicht mehr im Zeitalter des Durchdreh-Kapitalismus. Es ist, als würde sich Vernon zusammen mit der Musikindustrie, wie wir sie einmal kannten und geil fanden, auflösen[3]. Was er nicht weiß: Er wird im Internet gesucht, weil er die letzten Aufnahmen eines Popstars hat. Bevor er starb, hat er seinem alten Freund Vernon eine Botschaft hinterlassen: »Nicht die Musik hat sich geändert, sondern wir. Wir sind gelähmt vor Angst. Wir sind in den Rock eingestiegen, als würden wir eine Kathedrale betreten. Wie ein Trip mit ’nem Raumschiff war das (…) Haben uns das Leben erfunden, das wir wollten. Und kein Spielverderber hat uns vorhergesagt, dass wir irgendwann aufgeben.«

Luz hat durch seine Arbeit an diesem Comic wieder angefangen, Musik zu hören. Er beneide Vernon dafür, »dass er selbst am Tiefpunkt noch ein Beben und Schwingen fühlt und ihm die Musik bleibt«, erzählte Luz der »Welt«. Die war bei ihm nach dem Attentat verschwunden, aber »indem ich mich an seiner Figur abgearbeitet habe, ist sie langsam wiedergekommen.«

Luz: Vernon Subutex. Nach dem Roman von Virginie Despentes. A.d. Franz. v. Claudia Steinitz und Lilian Pitha. Reprodukt Verlag, 304 S., brosch., 39 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/958460.goetterdaemmerung-im-land-der-aufklaerung.html?sstr=Houellebecq
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1066553.wo-der-absturz-rockt.html?sstr=Virginie|Despentes
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1111357.wie-tot-ist-die-musikindustrie.html?sstr=Wie tot ist die Musikindustrie