nd-aktuell.de / 18.09.2022 / Kultur / Seite 1

Nicht an einem einzigen Tag

»Der Untergang des Römischen Reiches« in Trier – ein Beispiel für den schleichenden Verfall von Imperien

Ronald Sprafke
Tremissis des Romulus, Gold, 475-476 n.Chr. geprägt – die Goldmünze hat einen Wert von einem Drittel-Solidus, Vorderseite: Porträt des Kaisers mit Diadem, Rückseite: Kreuz im Kranz
Tremissis des Romulus, Gold, 475-476 n.Chr. geprägt – die Goldmünze hat einen Wert von einem Drittel-Solidus, Vorderseite: Porträt des Kaisers mit Diadem, Rückseite: Kreuz im Kranz

Zufall oder Ironie der Geschichte – mit Romulus begann und endete die Geschichte Roms und des Römischen Reiches. Romulus hatte einst 753 v. Chr. die Stadt gegründet – so der Mythos. Der andere Romulus wurde 476 n. Chr. als letzter Kaiser abgesetzt – so die Geschichte. Das war das Ende des Römischen Imperiums – so die Interpretation.

Bis heute haben Historiker über 220 gelehrte Erklärungen für den Untergang des Römischen Reiches gefunden. Lange wurden einzelne Personen, konkrete Ereignisse oder Jahreszahlen als entscheidend dafür angesehen. Dabei sagt die Deutung oft mehr über die Denkweise des Deutenden als über das zu deutende Phänomen in längst vergangener Zeit aus. Seit dem späten 20. Jahrhundert fragen sich die Wissenschaftler nunmehr, ob wirklich von einem plötzlichen Kollaps geredet werden kann oder es vielmehr ein Übergang und nicht »Untergang« war, bei dem manches zwar verlorenging, anderes jedoch fortbestand und Neues entstand. Nun nimmt sich Trier dieser Fragen an.

Im Jahre 17 v. Chr. von Kaiser Augustus gegründet und somit die älteste Stadt Deutschlands und von Konstantin zur Kaiserresidenz ausgebaut, ist Trier für das Thema besonders prädestiniert. Wie schon in den großartigen Ausstellungen über Konstantin (2007) und Nero (2016) bündeln auch jetzt drei große Museen der Stadt ihre Kräfte: Das Rheinische Landesmuseum zeigt den allmählichen Niedergang des Römischen Reiches vom 3. bis zum 5. Jahrhundert, das Museum am Dom berichtet vom Aufschwung des Christentums und vom Weiterleben der römischen Zivilisation; das Stadtmuseum Simeonstift widmet sich dem Erbe Roms und dem Fortleben des Reiches in der Kunst- und Kulturgeschichte.

Mitte des 3. Jahrhundert steckte Rom in einer schweren Krise. Immer öfter rief das Militär Anführer zu neuen Herrschern aus. Bürgerkriege waren die Folge. Zwischen 235 und 285 saßen 21 Soldatenkaiser oft nur wenige Monate auf dem Thron. Die Schwäche nutzten Alemannen, Franken und Goten an Rhein und Donau sowie Sassaniden an Euphrat und Tigris. Im Westen entstand ein Gallisches Reich, im Osten das Reich von Palmyra. Das Imperium drohte zu zerfallen. Das Kaisertum stemmte sich mit Reformen gegen die Gefahr des Zerfalls. Eine Münzreform richtete die ruinierte Wirtschaft wieder auf. Gefährdete Provinzen wie Dakien wurden aufgegeben. Militärische Führungsämter wurden nicht mehr mit Senatoren, sondern mit erfahrenen Offizieren besetzt.

Ein grundlegender Umbau der Kaiserherrschaft erfolgte ab 293 unter Diokletian. Er begründete die Tetrarchie, die Vierkaiserherrschaft: Im Ost- und Westteil des Reiches führte ein »alter« Augustus die Amtsgeschäfte, jeweils unterstützt von einem »jungen« Caesar, der auch als potenzieller Nachfolger galt. Die Macht war dadurch auf mehrere Schultern verteilt. Aber die Nachfolge blieb weiterhin umkämpft, nicht selten mörderisch. Wie unruhig die inneren und äußeren Verhältnisse waren, verdeutlicht in der Ausstellung eine Karte mit über 100 kriegerischen Auseinandersetzungen von Valentinian bis Romulus, mit dem das Römische Reich endgültig Geschichgte wurde. Im Katalog sind diese fast jährlich ausbrechenden Konflikte noch ausführlicher beschrieben.

395 n. Chr. gilt als das Jahr der Teilung in ein Ost- und ein Weströmisches Reich. Theodosius hatte noch zu Lebzeiten seine Nachfolge geregelt und die Söhne Honorius im Westen und Arcadius im Osten als Mitherrscher eingesetzt. Als der Vater starb, setzten seine Söhne in Mailand und Konstantinopel dessen Regentschaft wie bisher fort. Gesetze wurden weiterhin im Namen beider Kaiser und für beide Reichsteile beschlossen. Es gab also weiterhin eine Machtteilung, aber keine Reichsteilung.

Im frühen 5. Jahrhundert wandelte sich die Welt gravierend. Germanenheere überschritten in der Silvesternacht 406/407 den Rhein und verheerten Gallien. Goten eroberten 410 Rom. Britannien ging verloren. Als 429 auch Nordafrika an die Vandalen fiel, war das ein ruinöser Schlag für die Wirtschaft. Für den Kaiser im Westen schrumpfte nicht nur das Reichsgebiet, sondern auch seine Macht.

Feldherren mussten nicht mehr mit Gewalt nach dem Thron trachten. Als magister militum, als »Heermeister«, waren sie nun ohnehin zu den mächtigsten Männern im Staat aufgestiegen. Um sich zu behaupten, mussten die Kaiser vielfach reichsfremde Gruppen anwerben. Theodosius I. schloss 382 erstmals einen Vertrag (foedus) mit den Goten. Als foederati bekamen sie das Recht zur dauerhaften Ansiedlung innerhalb des Reiches (in Thrakien und Mösien). Dafür verpflichteten sie sich zur Heerfolge, kämpften als Söldner mit eigenen Anführern, aber unter römischem Oberbefehl.

Um 450 bestand das Weströmische Reich nur noch aus Italien und einigen angrenzenden Gebieten (Dalmatien). In dem Maße, wie die Macht der Heermeister im Reichsgebiet und die Bedeutung der Anführer der Föderatenverbände in den abgefallen Reichsteilen anstieg, war der Kaiser kaum noch handlungsfähig. Alles lief auf das große Finale zu, das so dramatisch dann aber gar nicht war.

Heermeister Orestes verjagte im Jahr 475 Kaiser Iulius Nepos nach Dalmatien und inthronisierte seinen Sohn Romulus. Der 16-Jährige war freilich nur eine Marionette des Vaters. Die Föderaten in Italien rebellierten, forderten Land und gleichen Sold wie die römischen Soldaten. Orestes sagte zu, hielt dann aber sein Versprechen nicht. Die Föderaten wählten den Germanen Odoaker zu ihrem Anführer. Der hatte zuvor in der kaiserlichen Leibwache gedient und militärisch Karriere gemacht. Am 28. August 476 besiegte und tötete er Orestes. Am 4. September nahm er die Kaiserresidenz Ravenna ein und setzte Romulus ab, ohne großen Widerstand. Romulus wurde in Rente geschickt, erhielt die Luxusvilla Castellum Lucullanum (heute Castel dell’Ovo in Neapel) sowie 6000 Goldstücke jährlich zugesprochen. Odoaker griff selbst nicht nach dem Purpur und setzte auch keinen neuen Kaiser ein. Er schickte Senatoren zum oströmischen Kaiser Zenon nach Konstantinopel, ließ diese die Herrscherinsignien überbringen und die Nachricht, der Westen bedürfe keines Kaisers mehr. Er selbst ernannte sich zum »Rex Italiae«, herrschte von nun an also als König über Italien.

Die Absetzung des Romulus wird oft als Ende des Römischen Reiches und der Antike generell angesehen. Aber das Oströmische Reich lebte weiter als Byzanz weiter bis 1453. Und genau genommen war Romulus nicht der letzte Kaiser Westroms. Denn Iulius Nepos herrschte in Dalmatien noch bis zu seiner Ermordung 480.

War aber Odoakers Sieg wirklich ein epochaler Einschnitt? Er verzichtete auf eine Institution, die so nicht mehr gebraucht wurde. Die einst mächtige und gefürchtete Kaisergestalt war überflüssig geworden. Für die meisten Untertanen ging der Alltag sowieso weiter wie bisher. Der weströmische Kaiserhof in Ravenna mit seiner Verwaltung und Beamten blieb unter Odoaker und dem folgenden Ostgotenreich bestehen. Das römische Wirtschafts- und Steuersystem funktionierte weiter. Außerhalb Italiens sah die Welt bunt aus: Westgoten herrschten in Südfrankreich und Spanien, Sueben im Nordwesten der Iberischen Halbinsel, Burgunder um Lyon, Franken um Paris, Alemannen an Rhein und Donau, Thüringer zwischen Donau, Main und Elbe, Vandalen in Nordafrika. Dort entstanden Königreiche, die zunächst formal noch die Oberhoheit Ostroms anerkannten, in der Folgezeit aber politisch und wirtschaftlich eigene Wege gingen.

Die Idee vom Imperium Romanum blieb bestehen. Der oströmische Kaiser Justinian wollte es wieder in alter Größe erstehen lassen. Mit einer kaiserlichen Verordnung regelte er 554 die Verhältnisse in Italien neu. Der Hof in Ravenna wurde aufgelöst, die alten Ämter abgeschafft, Italien als Provinz von Konstantinopel verwaltet. Der weströmische Senat verschwand erst um 600 aus den Quellen. Die Vorstellung von einem starken römischen Kaisertum lebte weiter. Karl der Große, König der Franken, ließ sich zu Weihnachten 800 von Papst Leo III. im Petersdom zum Kaiser krönen. Hier wurde der Grundstein für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation gelegt, in dem Salier, Staufer, Welfen und Habsburger einen alten Machtanspruch lebten, der erst 1806 mit Franz II. enden sollte.

Ob Rom an einem Tag gegründet wurde, wie es die Legende will, sei dahingestellt. Untergegangen ist es jedenfalls weder in einem Jahr noch an einem Tag, wie auch andere Imperien nicht (Osmanisches Reich, Sowjetuntion). Innere und äußere Faktoren ließen das antike Großreich nicht mit einem Schlag, sondern schleichend von der Landkarte verschwinden. Die ereignisreichen Jahre 250, 395, 410 und 476 waren Sargnägel für das Imperium Romanum. Dies zu verdeutlichen, ist Verdienst dieser sehenswerten Ausstellung.

»Der Untergang des Römischen Reiches«, Rheinisches Landesmuseum Trier, bis 27. November 2022, Katalog (Theiss, 464 S., 40 €).