Nicht nur die Geschichte der Barmherzigen

Die Berliner Schaubühne wird heute 60 Jahre alt

Otto Sander (li.) und Bruno Ganz in Peter Handkes "Der Ritt über den Bodensee", 1971
Otto Sander (li.) und Bruno Ganz in Peter Handkes "Der Ritt über den Bodensee", 1971

Berlin, heißt es, soll einmal Theatermetropole gewesen sein. In den Weimarer Jahren war das so. Viel hat sich seitdem verändert in der Bühnenlandschaft. Auch die Grenzstadt kannte noch einen ungewöhnlichen Theaterpluralismus: im Osten das Berliner Ensemble mit seiner Brecht’schen Tradition, das Deutsche Theater als erste Adresse der Bühnenrepublik, die experimentverliebte Volksbühne sowie das kleine Maxim-Gorki-Theater und das Theater der Freundschaft, das heute Theater an der Parkaue heißt. Die zwei großen West-Bühnen, das Schiller-Theater und die Freie Volksbühne, kennen wir heute so nicht mehr, sie wurden dem finanziellen Tod anheimgegeben.

Eine Westberliner Bühne hat bis heute Bestand. Die Schaubühne, damals noch nicht am Lehniner Platz, sondern am Halleschen Ufer in Räumlichkeiten der Arbeiterwohlfahrt gelegen, zeigte vor 60 Jahren »Das Testament des Hundes oder die Geschichte der Barmherzigen« von Ariano Suassuna, eine Erstaufführung in deutscher Sprache. So nahm das Theater, im Kollektiv gegründet und hervorgegangen aus einer Studentenbühne der Freien Universität, ihre Arbeit auf. »So ein angenehmes neues Theater!«, befand »Die Welt«. Einen »Kindergottesdienst für erwachsene Katholiken« machte die »Berliner Morgenpost« aus. Eine streitbare Inszenierung an diesem Haus mit streitbarer Geschichte.

Die Schaubühne war angetreten, Dinge anders zu machen. »Mitbestimmungstheater« lautete das Stichwort. Dem Modell der wie Fürstentümer beherrschten Theater wollte man etwas entgegensetzen. Dieses Vorhaben, oft diskreditiert, war kein Scheitern, sondern ein ernstzunehmender Versuch, der bis heute Anregungen gibt – zum Beispiel die, es künftig besser zu machen.

Von 1970 bis 1985 war Peter Stein, einer der aufregendsten Regisseure jener Jahre, der künstlerische Leiter des Hauses. Das politische Profil des Theaters wurde geschärft. Es wurde nicht nur zusammen gespielt, sondern auch politische Arbeit geleistet, was die Berliner CDU gelegentlich toben ließ. Das aber ging nicht zulasten der Kunst. Hier legte man Wert auf texttreues Lesen, genaues Inszenieren. Man war politisch aufgeklärt, und vielleicht darum war man bereit, an den Zauber der Bühne zu glauben.

Undenkbar wäre die Schaubühne jener Zeit ohne die herausragenden Schauspieler, die die Arbeiten prägten. Unbedingt zu nennen sind Bruno Ganz, Edith Clever, Jutta Lampe, Ilse Ritter, Otto Sander und Angela Winkler. Allesamt Künstler, die wir auch von der Leinwand kennen und die ihre Spur in der Kulturgeschichte hinterlassen haben.

Die Geschichte verlief nicht ohne Krisen, das Projekt Mitbestimmung wurde für gescheitert erklärt, und Stein verließ das Haus. Neue, andere Lichtblicke folgten: Robert Wilson, Luc Bondy, Andrea Breth führten Regie. Kurz vor der Jahrtausendwende übernahm Thomas Ostermeier, der junge Wilde von der Baracke des Deutschen Theaters, die Leitung des Hauses. Jung und wild ist an der Schaubühne heute nicht mehr viel. Es scheint, das Haus schläft einen Dornröschenschlaf und ruht sich auf seinem extrem erfolgreichen Gastspielbetrieb aus.

»Früher häufig Marx gelesen, / Aber jetzt auch so schon froh«, dichtete Kurt Bartsch in seinem lyrischen Kleinod »Sozialistischer Biedermeier«. Dieser scheinfortschrittliche Biedermeier war kein alleiniges ostdeutsches Phänomen, er breitete sich auch in Westberlin aus. Auch dieses einst linke Theater leidet etwas an seiner Biedermeierlichkeit. Das muss so nicht bleiben, die Kunst lebt schließlich von ihrer ständigen Selbsterneuerung. Vielleicht auch am Lehniner Platz? Es wäre der Schaubühne zu wünschen.

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