nd-aktuell.de / 25.09.2022 / Berlin / Seite 1

Sammelstelle zur Deportation der Juden

Kunstinstallation erinnert an der Berolinastraße an ein verschwundenes Pflegeheim

Nina Süßmilch
Zusammen essen und trinken, wo früher das Jüdische Altenheim stand.
Zusammen essen und trinken, wo früher das Jüdische Altenheim stand.

Es riecht nach heißer Suppe, und es sieht gemütlich aus. Auf der Kreuzung Berolinastraße hinter dem Haus der Statistik liegen an diesem Samstag Teppiche auf dem Gehweg und auf der Straße. Auf einer langen Tafel stehen kleine Blumensträuße, alte Stehlampen werfen kreisrundes Licht. Sie sind Teil einer Installation der US-amerikanischen Künstlerin R. Stein Wexler. Die Straße ist bis zum Abend abgesperrt. Man muss um den einstigen Grundriss des Hauses in der damaligen Gerlachstraße herumlaufen, will man daran vorbei. Ein junges Pärchen saust dennoch mit einem Elektro-Roller quer durch die Kunstinstallation, dreht sich kurz um und kichert. Hier steht Geschichte buchstäblich im Weg. Und genau so soll es sein.

»Wir wollen mit dieser Aktion auf die Geschichte hier aufmerksam machen,« erklärt Anja Malcharowitz vom Vorstand des Nachbarschaftsrats KMA II. Keine*r der Anwohner*innen wusste, dass hier bis vor dem Abriss das teilweise durch den Krieg stark zerstörte Gebäude des Jüdischen Senioren- und Pflegeheims stand. Ab 1942 nutzten die Nazis das Haus als Sammelstelle für sogenannte Alterstransporte. Über 2000 ältere jüdische Mitbürger*innen wurden in das Sammellager gebracht, bevor man sie in Konzentrationslager verschleppte. Auch Anja Malcharowitz wusste nichts von der Geschichte, obwohl sie hier aufgewachsen ist. Sie hatte zufällig eine alte Gedenktafel entdeckt, die früher in der Gerlachstraße gehangen hatte und die sie neugierig machte. Bei der Internetrecherche stieß Malchorowitz auf einen Artikel des Historikers und Politologen Akim Jah, der 2016 die Schrift »Die Deportation der Juden aus Berlin« publiziert hatte.

Am 9. September fand ein Workshop mit Jah statt, an dem Freiwillige und Anwohner*innen die Lebenswege von 41 Personen aus dem Seniorenheim rekonstruieren wollten. Luise, Anfang 20, war dabei und sitzt jetzt mit einigen anderen Beteiligten am Tisch. Sie dreht sich eine Zigarette und erzählt, dass ein Plakat sie auf den Workshop aufmerksam gemacht hatte. »Ich wohne hier nicht, fand aber die Aktion interessant«, erzählt sie. Dabei hat sie nicht nur mehr über die Bewohner*innen des Jüdischen Seniorenheims erfahren, sondern Geschichte für sich und andere erfahrbar gemacht. Die biografischen Daten der ehemaligen Heimbewohner*innen, die gemeinsam recherchiert wurden, sind am Samstag als Grafik visualisiert.

Mit der Kunstinstallation wurde das ehemalige Seniorenheim für einige Stunden wieder begehbar. Die Künstlerin R. Stein Wexler hat mit dem Grundriss des Heims einen überdimensionalen Stolperstein geschaffen. Teile der Außenwände hat sie durch Türen aus dem Haus der Statistik dargestellt, auf denen die Forschungsergebnisse der Mitwirkenden des Nachbarschaftsrats KMA II und der Mollgenossenschaft präsentiert wurden.

Aus vier Lautsprechern, die um die Installation standen, hört man, wie Anwohner*innen die Listen mit den Namen der deportierten jüdischen Mitbürger*innen vorlasen. Im Januar hatte man diese erste Aktion organisiert, um sich an die Namen der Verfolgten zu erinnern und sie als Startpunkt für weitere Recherchen zu nutzen. Die Mitwirkenden um Anja Malcharowitz und R. Stein Wexler wollen die Geschichte des Seniorenheims gern in die Neugestaltung und die neue Nutzung des Hauses der Statistik integrieren.[1]

Das Zentrum für Kunst und Urbanistik ist Teil des Projektes Haus der Statistik. Und so kam Stein Wexler als ehemalige Stipendiatin mit dem Nachbarschaftsverein in Kontakt. Sie stellt Geschichte als fast fluide Erfahrung dar. Temporär sichtbar, dann wieder für Jahrzehnte vergessen. Mit den Nachkriegsjahren setzte das große Verdrängen ein, dauert zum Teil bis heute an.

Die US-amerikanische Künstlerin interessiert mit ihren öffentlichen Kunstaktionen immer auch, was wie erinnert wird. Sie macht Kunst an der Schnittstelle zur Stadtplanung, mit Blick auf den öffentlichen Raum. Persönliche Verbindung zum Thema Faschismus hat sie durch ihre Großmutter, die vor den Nazis geflohen war. So schließt sich der Kreis.[2]

Überbaute, vergessene Geschichte darf hier wieder aufleben. Wexler und Malcharowitz wollen nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Politik aufmerksam machen, um mithilfe von Fördergeldern das Projekt dauerhaft im Haus der Statistik gestalten zu können. Zwei Kommunalpolitikerinnen der SPD waren vor Ort.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158596.berliner-geschichte-juedische-revolutionaere-spuren.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157496.juedische-geschichte-so-real.html