nd-aktuell.de / 27.09.2022 / Kultur / Seite 1

Heimatfrontimperialismus

Die Zeitenwende in den Köpfen: Über Claudia Major als Nachfahrin der Alldeutschen

Detlef Kannapin
Sozialismus oder Barbarei? Claudia Major weiß, was sie will.
Sozialismus oder Barbarei? Claudia Major weiß, was sie will.

Die durch den medialen Dauerbeschuss der letzten Monate langsam im Zermürbungsstadium angekommene deutsche Volksgesellschaft, die mittlerweile selbst für die Dinge der einfachen Reproduktion unter permanenter Spannung gehalten wird, benötigt nunmehr Lenkung zu ihrem eigenen Interesse. Was vorher nebulös raunend von den Reptilien der bürgerlichen Öffentlichkeit an Empfehlungen zu Frontbegradigung und Waffengang angeboten worden ist, bedarf durchaus einer regierungsamtlichen, wenn auch unabhängig scheinenden Stellungnahme, die allen aufzeigt, was »Zeitenwende« im spätimperialistischen Zeitalter zu bedeuten hat.

Analog dazu, dass Hohenzollern und Reichsregierung, Ministerialbürokratie und Abschirmdienst, Kanzleramt und Kriegsministerium zur Konsensbildung und Rücksichtnahme gezwungen sind, leisten sich alle Hocheinheiten der Großmachtpolitik ihre offiziösen Sprachrohre, die möglichst objektiv und analytisch daherkommen. Vor dem Ersten Weltkrieg war das der Alldeutsche Verband, in der Zwischenkriegszeit die jungdeutschen Militärs, unter Adolf die Denkschriftkombinate aus Wirtschaft und Wehrmacht, um schließlich in ein transatlantisches Kooperativ einzumünden, das Alldeutsches mit Europäischem verband.

Genau an diesem Zwingpunkt befindet sich der hiesige Staat heute wieder. Man wird sich den 19. September 2022 merken müssen. Ähnlich bahnbrechend wie die Verabschiedung der Nato-Doktrin am 24. April 1999, mit der jeglicher Anwandlung sozialistischer Gesellschaftsambitionen ein interventionistisches Aufmarschieren angedroht wurde, gestaltet sich das verkündete Programm »geopolitischer Herausforderungen« in einem quasi-offiziellen Status. Zeitpunkt und Ort waren nicht schlecht gewählt, unscheinbar und ohne viel Aufhebens: Munich Economic Debate in der IHK für München und Oberbayern, veranstaltet vom ifo-Institut und »Süddeutscher Zeitung«. Referentin an diesem 19. September: Dr. Claudia Major, Stiftung Wissenschaft und Politik, Beratungsorgan des Auswärtigen Amts und damit gewissermaßen noch Mini-Foreign-Affairs-Thinktank der Hilfseuropäer.

Für ihren Nachnamen kann sie sicher nichts, Programm ist der trotzdem. Denn das, was sie in ihrem Vortrag »Die geopolitische Neuordnung der Welt – welche Rolle spielen Deutschland und Europa?« vom Stapel gelassen hat, steht dem Schrifttum in der Tradition des Alldeutschen Verbands, freilich nun nach europarechtlicher Maßgabe, in nichts nach. Die »Süddeutsche Zeitung« berichtet am 20. September 2022 auftragsgemäß: »Bislang sind es meist die USA gewesen, die bei den Waffenlieferungen [gemeint ist, an die Ukraine – DK] den Ton angaben. Doch Europa kann sich der amerikanischen Aufmerksamkeit für den Konflikt vor seiner Haustür [Europa reicht bis zum Ural. – DK] nicht sicher sein; das Hauptaugenmerk der USA liegt Major zufolge auf ihrer Rivalität mit China.« So, und nun die prägnante Zusammenfassung all dessen, was Bundespolitik und Bundeswirtschaft wirklich vorhaben: »Deutschland müsse daher [!] die eigene Aufrüstung weiter vorantreiben, das Nato-Ziel von zwei Prozent Verteidigungsausgaben gemessen am Bruttoinlandsprodukt erreichen und halten [Warum nicht gleich steigern? Noch zu früh, nehme ich an. – DK]. Das wären rund 75 Milliarden Euro im Jahr [das Zehnfache des aktuellen Landwirtschaftshaushalts der BRD für 2023 – DK]. Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Anschaffungen wie nuklearwaffenfähige [!!] Kampfjets [Doch, das steht da! Übermittlungsfehler ausgeschlossen, der Vortrag ist online abrufbar und auch in der Porträtbildung äußerst lehrreich. Die verfassungsrechtliche Frage lasse ich weg. – DK], Hubschrauber und bewaffnete Drohnen [!! – vgl. nochmal Verfassung – DK] wirkt da gar nicht mehr so groß. Deutschland müsse sich endlich bewusst werden, dass es eine ›Schlüsselrolle‹ für die Sicherheit Europas spielt, forderte Major [und mit ihr noch viele weitere deutsche Untertanen, bis auf den heutigen Tag! – DK]. Die ›Zeitenwende‹ des Kanzlers müsse in den Köpfen ankommen. Erfahrungsgemäß [!] dauere so ein Mentalitätswandel etwa eine Generation. Aber: ›Die Zeit haben wir nicht.‹« Ende der Durchsage.

Nicht ein einziges Wort hört man dabei über eine diplomatische oder gar langfristige Konfliktbewältigung. Und das, jetzt kommt’s, obwohl die Frau Majorin, KV-gestählt an ihrem Schreibtisch, seit 2010 (!) Beiratsmitglied der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung ist und sich darin um öffentliche Kommunikation und, noch mal, zivile Krisenprävention zu kümmern hätte. Zivile Krisenprävention endet bekanntlich nicht im Schützengraben, sondern hat eigentlich alles Erdenkliche dafür zu tun, den wieder zuzuschütten. Aber in der Epoche spätimperialistischen Dauernebeneinanders von Krieg und Nicht-Krieg ohne erkennbare Kriegsziele, einem existenziellen Weiterdümpeln ohne gesellschaftliche Perspektive, dem atemberaubenden Aufstieg des theologischen Irrationalismus und einer apathischen Ignoranz gegenüber Klassen- und Naturverhältnissen, bewahrheitet sich einmal mehr das Diktum von George Grosz: Das sind Leute, die an keine Zukunft glauben und sie dennoch bestimmen wollen. Unsere »Sicherheitsexpertin Major« ließ sich schon am 8. September 2022 in den Militärpolitischen Mitteilungen, auch bekannt als »Der Spiegel«, mit dem Satz vernehmen: »Die Ukrainer wissen sehr genau, wo sie hinfeuern müssen.« Woher eigentlich? Und was bedeutet das für die Folgezeit? Laut Auflistung der Stiftung für Wissenschaft und Politik hat Claudia Major, Stand heute, für das noch nicht zu Ende gegangene Jahr 2022 allein 82 Publikationen vorzuweisen, in denen sie immer dasselbe sagt: Krieg muss sein, sonst knallt’s! Ihre Funktion im Heimatfrontimperialismus besteht darin, die Volksgesellschaft mithilfe von Opportunismus und Sozialchauvinismus auf einen durch sich selbst legitimierten Dauerkrieg einzustimmen, der, wie Lenin sagt, »die kleinbürgerliche und zersplitterte Masse durch besondere Drohungen und Gewaltanwendung zur Zusammenarbeit mit der Bourgeoisie zwingt: Dieser Umstand vergrößert natürlich den Kreis der Anhänger des Opportunismus und erklärt vollauf das Überlaufen vieler gestriger Radikaler in dieses Lager.« Freunde, die Majorin ist keine Einzelmeinung! So denkt die herrschende Klasse. Je weniger Sozialismus, desto mehr Barbarei. Das muss endlich in den Köpfen ankommen. Erfahrungsgemäß dauert so eine Mentalitätserinnerung etwa eine Generation. Aber die Zeit haben wir nun ganz gewiss nicht.