nd-aktuell.de / 30.09.2022 / Kommentare / Seite 1

Wir müssen reden!

Geht es in Grundsatzdebatten um die ganz großen Fragen oder nur um den bloßen Schlagabtausch?

Lilli Mehne
Wenn der geistreiche Einzeiler mehr wiegt als das nuancierte Argument, dann wird das Diskussion zur Karrikatur ihrer selbst.
Wenn der geistreiche Einzeiler mehr wiegt als das nuancierte Argument, dann wird das Diskussion zur Karrikatur ihrer selbst.

Wer kennt sie nicht, die Leute, die auf Partys stundenlang diskutieren wollen? Anfänglich mag das vielleicht belustigen, doch nach einiger Zeit schlägt die Stimmung oft in Genervtheit um und die meisten wenden sich ab. Selbst passiv-aggressives Lauterdrehen der Musik ist hier meist umsonst, denn die Diskutierenden finden immer eine Ecke, die ruhig genug ist – nur um dort selbst laut zu werden. Ehrlich gesagt, das bin ich. Intuition und geschickte Fragen führen mich zuverlässig zu diskutierfreudigen Menschen. Zum Glück werde ich trotzdem noch eingeladen.

Während das Diskutieren für mich allerdings eine amüsante Freizeitbeschäftigung ist, messen andere Menschen dem eine sehr hohe Bedeutung bei. Das ist verständlich, solange es um konkrete Problemfälle mit unmittelbarem Entscheidungsdruck geht. Hier ist die Relevanz von Diskussionen kaum abzustreiten. Die Geister scheiden sich jedoch an abstrakten Grundsatzdebatten: Die einen halten sie für überflüssige und selbstgefällige Wortklauberei, andere schwören darauf, dass nur auf diesem Weg so etwas wie Wahrheit gefunden werden könnte.

In der Grundsatzdebatte über Grundsatzdebatten gibt es durchaus überzeugende Argumente: Ob öffentlich oder privat, Diskussionen schaffen Raum für die ausführliche Darlegung eines Fürs und Widers. Das kann sowohl für die Diskutierenden als auch für ein mögliches Publikum eine wertvolle Horizonterweiterung sein. Erstere müssen in einen Prozess der Selbstreflexion treten, um ihre Meinung überhaupt vertreten zu können und die Menschen, die das Ganze verfolgen, hören möglicherweise Denkansätze, die ihnen bisher noch nicht untergekommen sind.

Die Prominenz von Querdenken-Schwurbelei hat uns allerdings auch die Gefahren solcher offenen Diskussionen aufgezeigt. Platz für unkonventionelle Ideen bedeutet immer auch Platz für Scharlatane jeglicher Art. Gerade weil Charisma und Rhetorikkünste eine große Rolle beim Diskutieren spielen, ist ein Verständnis von Debatten als Wahrheitsfindung problematisch. Im schlimmsten Fall setzen sich hier stattdessen Falschinformationen, Verschwörungserzählungen und menschenverachtende Ideologien durch.

Genau deshalb ist die Frage, mit wem öffentlich diskutiert werden kann und sollte, in linken Kreisen höchst umstritten. Wenn eine Person außerhalb des eigenen politischen Dunstkreises zu einer Diskussionsveranstaltung eingeladen wird, hängt das Ausmaß des Widerspruches von der Art und der Offensichtlichkeit ihrer (möglicherweise) menschenverachtenden Positionen ab. Selbstbekennende Rassist*innen werden in den allerwenigsten Fällen als Diskussionspartner*innen in Erwägung gezogen, transphobe »Radikalfeminist*innen«, die eher mit Andeutungen für Eingeweihte – sogenannten Hundepfeifen – Politik machen, haben da schon bessere Karten.

Selbst im hypothetischen Idealfall einer öffentlichen Debatte, in der weder Menschenverachtung noch Fake News Platz finden, bleibt ein Problem bestehen: Die Wahrscheinlichkeit ist sehr gering, dass sich Menschen der Komplexität ihrer eigenen Position stellen wollen. Stattdessen wird die Grundsatzdebatte zu einem intellektuellen Schlagabtausch, bei dem man für den eigenen Favoriten mitfiebert. Aber diese Wettbewerbslogik untergräbt jeglichen Nutzen, den man sich von Diskussionen verspricht. Wenn ein scheinbar geistreicher Einzeiler, der die Gegenseite schlecht aussehen lässt, mehr Aufmerksamkeit bekommt als ein nuanciertes Argument, wird letzteres immer seltener. Dann ist das Diskutieren aber wirklich nur noch eine unterhaltsame Beschäftigung.