nd-aktuell.de / 06.10.2022 / Politik / Seite 1

Die Hoffnungsträgerin im Hudson Valley

Bislang war sozialistische Politik eher in den Städten der USA salonfähig. Sarahana Shresta will das im ländlichen New York ändern

Stefan Liebich, Hudson
Die Kleinstadt Kingston hat viel Zuzug aus New York. Freie Wohnungen gibt es kaum, dafür aber lukrative Kurzzeitvermietungen. Sarahana Shresta setzt sich für eine soziale Politik ein.
Die Kleinstadt Kingston hat viel Zuzug aus New York. Freie Wohnungen gibt es kaum, dafür aber lukrative Kurzzeitvermietungen. Sarahana Shresta setzt sich für eine soziale Politik ein.

Böse Zungen sagen über das Hudson Valley, es sei das neue Brooklyn geworden. Bis zu dem Stadtteil in New York City dauert es mit dem Auto oder dem Zug nur gute drei Stunden. Vor 2020 kamen oft Wochenendausflügler aus der großen Stadt. Doch als die Covid-Pandemie dort besonders viele Opfer forderte, flohen viele vor dem Virus hierher.

Sie haben das städtische Leben mitgebracht, die Cafés, Restaurants und Fitnessstudios. Gemeinsam mit dem kalifornischen Unternehmen Airbnb haben sie auch die Immobilienpreise in die Höhe getrieben. In Kingston, mit 24 000 Einwohnerinnen und Einwohnern eine der größeren Städte in dem Tal, lag laut dem Immobilienportal Zillow der durchschnittliche Preis für ein Haus im Februar 2020 bei 244 000 Dollar, aber nur zwei Jahre später waren es schon 360 000 Dollar. Während heute nur noch etwa ein Dutzend Mietwohnungen auf dem Markt angeboten werden, gibt es bei Airbnb Hunderte Angebote mit einem durchschnittlichen Übernachtungspreis von 283 Dollar. Viele Menschen, die Kingston oder andere Orte in dieser Gegend ihr Zuhause nannten, wurden verdrängt oder sogar einfach auf die Straße gesetzt.

Das führt zu gesellschaftlichen Spannungen. Es gibt Gegensätze zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen, Konservativen und Liberalen sowie zwischen Arm und Reich. Politisch ist das Hudson Valley seit langem von Kontrasten geprägt. Einige kleine Städte haben ein höheres Durchschnittseinkommen. Dort wählt man eher linksliberal. Auch einfache Arbeiter*innen, darunter viele Schwarze, votieren traditionell für die Demokraten. In den ländlichen Gebieten dagegen dominieren eher die Republikaner.[1]

Nun geschah aber etwas kaum Vorstellbares. Bei den Vorwahlen für das Parlament im Bundesstaat New York im Juni setzte sich im Distrikt 103, in dem rund 134 000 Menschen leben, die Sozialistin Sarahana Shresta gegen den langjährigen Abgeordneten Kevin Cahill durch und hat nun beste Chancen, bei den Wahlen am 8. November ein Mandat zu gewinnen.

Wie es zu Shrestas Überraschungserfolg kam, kann Jonathan Bix erklären. Vieles habe mit einer Kampagne von Bernie Sanders zu tun, erzählt er im »Red Dot«, einem Lokal in der Kleinstadt Hudson, in dem Slogans für Frieden und Demokratie an der Wand hängen. »Vor dessen erster Kampagne vor sechs Jahren habe sich kaum jemand den Linken angeschlossen. Die Bewegung war winzig, und dort waren seltsame Leute, die sich von der Gesellschaft abgekoppelt hatten. Bernie Sanders’ Präsidentschaftsbewerbung als demokratischer Sozialist hat das verändert.« Außerdem sei da eine neue Generation gewesen, die den Kalten Krieg nicht mehr miterlebt habe. Auch Jonathan Bix gehört dazu. Er wuchs in einem linken Elternhaus auf und hat kein Problem damit, sich zu seinen politischen Überzeugungen zu bekennen. »Wir sind heute viel offener für sozialistische Politik. Für uns waren Bernie, der Aufstieg der Democratic Socialists of America (DSA) und die linke Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez aus New York City sehr wichtig.«

Jonathan Bix kämpft im Hudson Valley mit seiner Organisation »For the Many« (»Für die Vielen«) gegen die Folgen der Gentrifizierung – für bezahlbares Wohnen, eine gute Gesundheitsversorgung und eine klimaschonende und sozial gerechte Energiepolitik. Inzwischen sind in der Initiative tausend Menschen aktiv, und in jedem Jahr erhält sie von mehr als zehntausend Menschen Spenden für ihre Arbeit.

Das war nicht immer so. Vor zehn Jahren traf Bix sich mit Gleichgesinnten in den Räumlichkeiten einer Kirche, um gemeinsam zu überlegen, was man gegen die Folgen der Finanzkrise tun könnte. Viele Menschen konnten sich damals ihre Wohnungen oder ihr Häuschen nicht mehr leisten und wurden geräumt. »For the Many« steht für eine soziale Politik. Die Initiative tritt erfolgreich dafür ein, die Banken für jede Zwangsvollstreckung und jedes leerstehende Haus in ihrem Besitz zur Kasse zu bitten. Sie verhinderte eine bereits angekündigte Preiserhöhung des örtlichen Energieversorgers. Es gelang ihr außerdem, ein Programm zur Unterstützung einkommensschwacher Familien durchzusetzen, damit Stromabschaltungen vermieden werden. Später erreichte sie sogar eine allgemeine Preissenkung. »Wir kombinieren hier das Thema Klimawandel mit der Frage nach erschwinglicher Energie«, erzählt Bix. »Alle finden die privaten Energieversorger furchtbar. Ihr Service ist schlecht, die Infrastruktur marode und die Preise sind zu hoch. Das gibt uns die Chance, eine Alternative zu präsentieren: nämlich öffentliche Unternehmen, die saubere Energie produzieren.«

Der Bundesstaat New York ist mit seinen 22 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern größer als Schweden und Portugal zusammen und stünde mit seiner Wirtschaftskraft auf dem zehnten Platz weltweit, wenn er ein eigenständiges Land wäre. Und er ist einer von 14 Staaten in den ganzen USA, in denen die Demokraten die Mehrheit in beiden Kammern des Parlaments haben und die Gouverneurin stellen.

»Wir könnten hier wirklich etwas zum Guten verändern«, sagt Bix. »In einem Staat, in dem die Republikaner eine der beiden Kammern oder gar beide kontrollieren oder den Gouverneur stellen, wird man nichts Progressives zustande bringen. Hier jedoch müssen allerdings die Demokraten gut genug sein, um Sinnvolles zustande zu bringen. Hier kann man nicht – wie es die Mainstream-Demokraten gern machen – die Schuld auf die Republikaner schieben. Wir können sie von links unter Druck setzen. Und dafür braucht es genug Sozialisten und Progressive.[2]« Die Linken in beiden Kammern des Parlaments machen im Bundesstaat New York ungefähr 20 Prozent der Abgeordneten aus.

Bisher kommen die linken Abgeordneten vor allem aus Brooklyn. Nun könnte sich aber Sarahana Shresta im Hudson Valley durchsetzen. »Ich habe in New York während meines Studiums in einer Bibliothek gearbeitet«, erzählt sie bei einem Treffen in einem Café. »Dort habe ich linke Zeitungen gelesen. Mein politisches Zuhause habe ich bei der DSA gefunden, zunächst bei der ›Public Power‹-Kampagne. Wir wollen ein Energiesystem, das nicht dem privaten Markt unterworfen ist, sondern in öffentlicher Hand und das im Dienste der Menschen steht. Das fand ich gut.«

Shresta wurde in Kathmandu geboren. In ihrer Kindheit gab es in Nepal eine Demokratiebewegung, die zum Ende der Monarchie führte. In dieser Zeit wurde sie politisiert. Zum Studieren kam sie in die USA, wurde Bürgerin des Landes und lebt heute mit ihrem Mann und ihrem Hund in der Kleinstadt Esopus im Hudson Valley. »Als jemand aus dem globalen Süden bin ich mir des Klimawandels sehr bewusst«, erzählt sie. »Ich habe mich sehr für einen Gesetzentwurf zum Aufbau öffentlicher erneuerbarer Energien eingesetzt. Und das war auch meine Motivation, mich um das Mandat hier zu bewerben.«

Eigentlich wollte Shresta lieber hinter den Kulissen mithelfen, eine geeignete Person zu finden und diese unterstützen. »Aber du weißt ja, wie das ist. Ich habe gesagt: Wenn wir niemanden finden, dann überlege ich es mir. Und wir haben niemanden gefunden. Also habe ich gesagt, ich mach’s.« Sie bewarb sich also bei den Vorwahlen der Demokraten um einen Sitz, den ihr Opponent, Kevin Cahill, 26 Jahre lang innehatte. Und sie gewann mit gerade einmal 531 Stimmen Vorsprung. Die Demokratische Partei akzeptierte das Ergebnis und unterstützt sie seitdem. Selbstverständlich ist das nicht. Als im vergangenen November in Buffalo, im Norden des Staates, die Krankenschwester und sozialistische Aktivistin India Walton[3] die demokratischen Vorwahlen gegen Bürgermeister Byron Brown gewann, ließ ihre Partei sie hängen, und der Amtsinhaber gewann schließlich das Mandat.

Am Wahltag im November wird sie auf Patrick Sheehan treffen, den Kandidaten der Republikaner, der früher selbst Demokrat war. Sheehan will eine Alternative zur Sozialistin Shresta sein und wirbt damit, dass er nicht radikal sei und schon immer in der Gegend lebe. Das ist eine wenig versteckte Attacke auf Shrestas Lebensgeschichte. »Die Leute haben zwar manches über mich gehört, aber sobald ich ihnen an der Tür begegne, vertrauen sie mir«, so ihre Beobachtung. »Sie sehen, dass ich keine radikale Bedrohung, sondern freundlich bin. Ich habe in diesem Wahlkampf zum Glück bis jetzt noch keine rassistischen Erfahrungen machen müssen.«

Shresta ist motiviert. Sie wird an viele Türen klopfen, potenzielle Wählerinnen und Wähler anrufen, und es gibt etliche Freiwillige, die ihr dabei helfen. Die braucht sie auch, denn im dünn besiedelten ländlichen Amerika sind die Wege deutlich weiter als in Brooklyn. Sich hier vor allem auf junge Wählerinnen und Wähler zu konzentrieren, wäre aussichtslos, weil die Demografie eine andere ist. Junge Leute ziehen oft in große Städte wie New York City. Es geht im Hudson Valley auch viel weniger um die Parteizugehörigkeit als um die Spaltung der Gesellschaft zwischen »oben« und »unten«. Viele Leute sind enttäuscht von der etablierten Politik im Allgemeinen und machen kaum noch einen Unterschied zwischen zentrischen Demokraten und Mainstream-Republikanern. Hier eine wirkliche Alternative zu bieten, kann eine Chance sein, um potenzielle Wählerinnen und Wähler zu erreichen, die nicht zwischen den beiden Parteien schwanken, sondern gar nicht mehr wählen wollten.

Shresta ist davon überzeugt, dass die Menschen in der Stadt und auf dem Land eigentlich für ganz ähnliche Dinge einstehen. »Selbst die ländlichen Gegenden werden gentrifiziert«, erklärt sie. »Leute mit Geld kommen und kaufen hier Häuser. Die grundlegenden Dinge, die Menschen brauchen – Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Klimaschutz, Investitionen in Schulen und Krankenhäuser – sind überall im Staat New York wichtig, egal wo man hingeht.« Natürlich gebe es Unterschiede, wie die Menschen über die Parteien und die Regierung dächten, gibt sie zu. »Aber die meisten haben überall das Gefühl, dass es zu viel Einfluss von Unternehmen gibt und zu wenig Zugang zu öffentlicher Infrastruktur. Und Korruption ist ein großes Thema, egal welcher Partei sie angehören.«

Jonathan Bix sagt zum Abschluss des Gesprächs im »Red Dot«, er glaube daran, dass man mit sozialistischer Politik in den USA gewinnen könne. Und zwar nicht nur in Brooklyn, sondern auch im Hudson Valley. »Wenn Sarahana das schafft, dann ist sie wahrscheinlich seit 100 Jahren die erste Sozialistin in den USA, die außerhalb der großen Städte gewählt wurde.«

Der ehemalige Linke-Bundestagsabgeordnete Stefan Liebich ist Fellow der Rosa-Luxemburg-Stiftung in New York City.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1161535.die-usa-auf-dem-land-demokratische-selbsthilfe.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163881.us-demokraten-lobbygeldflut-gegen-linke-demokraten.html
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158230.india-walton-sozialistin-gegen-das-establishment.html