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Angst vor der Nachahmung

Die anhaltenden Proteste im Iran hallen in der gesamten Region wider: Autokraten fürchten sie, Israel schöpft Hoffnung

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 8 Min.
Auftritt Ajatollah Ali Khamenei: Irans religiöses Oberhaupt bezeichnete die Demonstrant*innen diese Woche als "Aufrührer", die hart bestraft werden müssten.
Auftritt Ajatollah Ali Khamenei: Irans religiöses Oberhaupt bezeichnete die Demonstrant*innen diese Woche als "Aufrührer", die hart bestraft werden müssten.

Der Ort hatte wohl ein Signal sein sollen. In einer Polizeiakademie am Rande von Teheran erschien Ajatollah Ali Khamenei am Montag zu seinem ersten öffentlichen Auftritt seit Beginn der Proteste. Und nachdem das religiöse Oberhaupt des Iran wochenlang geschwiegen hatte, wirkte seine Rede nun den Dingen entrückt, wirklichkeitsfremd. Von »Aufrührern« und »Terroristen« sprach er, einigen wenigen, angestachelt durch Israel und die USA. Sicherheitsdienste und Justiz müssten die Demonstranten »hart bestrafen«. Am Morgen danach behauptete die regierungsnahe Zeitung Kayhan, »99 Prozent der Bevölkerung« seien »loyale Revolutionäre«, also Unterstützer der Islamischen Revolution und des Systems.

Doch danach sieht es nicht aus. Im Gegenteil. Überall im Land gehen die Menschen nun auf die Straße und das auch an Orten, die als konservativ und regierungstreu gelten. Und immer öfter fällt das Wort »Revolution«, das im Iran auf Grund der Geschichte eine besondere Bedeutung hat.

Nur: Wie könnte diese Revolution, eine Änderung des Systems aussehen? Würde sie von innen kommen, indem innerhalb des bestehenden Systems Reformen umgesetzt werden? Sollte es einen kompletten, abrupten Systemwechsel geben? Noch sind es theoretische Fragen. Doch in vielen Hauptstädten der Region und im Westen werden sie in diesen Tagen intensiv diskutiert: »Wir haben momentan extrem viele schwere Krisen an der Hand«, sagt ein amerikanischer Diplomat, der in der saudischen Hauptstadt Riad stationiert ist. »Und es macht Sinn, auf diese potenzielle Krise möglichst gut vorbereitet zu sein.«

Ein Land von geopolitischer Bedeutung

Denn die geopolitische Bedeutung des Iran ist herausragend. Die Revolutionsgarden, diese hochgerüstete, mächtige militärische Organisation, die gegründet wurde, um den Revolutionsführer an der Macht zu halten, ist heute an vielen Konflikten im Nahen Osten beteiligt. Sie unterstützt eine Vielzahl von militanten Gruppen, unter anderem im Jemen, im Gazastreifen, in Syrien und im Irak. Auf Grund seiner Lage zwischen Westen und Osten hat das Land eine geopolitische Schlüsselstellung. Seit Verhängung der Russland-Sanktionen hat der iranische Luftraum zudem als Route für Flüge zwischen Europa und Asien an Bedeutung gewonnen.

Internationale Politik und Diplomatie sind oft zynisch, ja können schmerzhaft sein. »Man weiß, dass man sich eigentlich hinter einen gute Sache stellen müsste«, sagte der ehemalige US-Außenminister John Kerry vor einigen Jahren in einem Hintergrundgespräch: »Doch dann legt man die Karten auf den Tisch und sieht: Oh, wenn wir das machen, dann schaden wir unseren Interessen oder denen unserer Partner. Eigentlich wäre es besser, wenn alles so bleibt, wie es ist, oder wenn wir nur hier und dort ein paar Waffen liefern.«

Bundesaußenministerin Annalena Baerbock setzt zunächst einmal auf eine Verschärfung der EU-Sanktionen gegen Einrichtungen und Führungspersonen der Islamischen Republik. Gemeinsam mit Frankreich, Dänemark, Spanien, Italien und Tschechien hat man einen Vorschlag für verschärfte Sanktionen gegen 16 Organisationen und Personen im Iran ausgearbeitet. Damit will man vor allem verhindern, dass die Beschränkungen die normale Bevölkerung treffen. Doch einer Reihe von Parlamentsabgeordneten in Teheran gefällt das gar nicht: Sie fordern umfassende Sanktionen gegen ihr eigenes Land.

Ungewöhnlich ist das nicht: Die Proteste haben sich nicht aus dem Nichts heraus entwickelt; der Freiheitswille ist über Jahre hinweg entstanden, und lange Zeit konnte man das nirgendwo so gut sehen wie im von der Bevölkerung gewählten Parlament. Vor den Wahlen lieferten sich dort potenzielle Kandidat*innen aus dem Reformerlager ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Wächterrat, der über jede Kandidatur entscheidet. Und im Parlament wurden immer wieder Debatten auch zu Tabu-Themen wie der Todesstrafe geführt. Doch auch wenn sich nun eine große Zahl an Abgeordneten hinter die Proteste gestellt zu haben scheint – die Macht des Parlaments ist sehr eingeschränkt. Die gute Nachricht ist aber: Genug Personal mit politischer Erfahrung wäre da.

Das hat auch in Israel Hoffnungen geweckt. Die Feindschaft der vergangenen Jahrzehnte basiert vor allem auf der anti-israelischen und antisemitischen Propaganda des Regimes, auf seinen Vertretern und auf dem iranischen Atomprogramm. Doch in einer anderen Zeit, unter einer anderen Regierung hatte der Iran in den 50er Jahren lange vor anderen Staaten in der Region diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Wie tief der Israel-Hass in der Bevölkerung nach Jahrzehnten der Bevölkerung tatsächlich ist, lässt sich nicht sagen, nur dass in den Gängen der Vereinten Nationen in New York immer wieder auch Israelis und Iraner zu sehen sind, die sich freundlich grüßen.

In Gesprächen mit Mitarbeiter*innen der israelischen Regierung wird sehr deutlich, dass man in den Protesten eine Chance sieht: Reformen am System, mit einer Entmachtung der Revolutionsgarden und wirklich freien Wahlen könnten nicht nur den Menschen mehr Freiheiten bringen, sondern auch viele der Probleme im Nahen und Mittleren Osten lösen: die Konflikte im Jemen und in Syrien beispielsweise, oder die iranische Unterstützung für den Islamischen Dschihad im Gazastreifen. Aber man sagt auch ganz klar, dass man sich nicht einmischen werde und auch von Regime-Change-Fantasien eines John Bolton, ehemals Sicherheitsberater von Ex-US-Präsident Donald Trump, nichts hält. Denn das hatten die USA gemeinsam mit Großbritannien schon in den 50er Jahren mit dem Sturz von Premierminister Mohammad Mossaddegh versucht; die Auswirkungen waren auch noch Jahrzehnte danach zu spüren und bildeten die Grundlage für die iranische Rhetorik des »Großen Satans«.

Zensur in Saudi-Arabien

Anderswo in der Region würden die Regierungen die Entwicklungen im Iran am liebsten gar nicht besprechen und schon gar nicht in den eigenen Medien thematisiert sehen. Denn vor allem in Saudi-Arabien herrscht ein ausgesprochen repressives Regime, das an einer extremen Interpretation der Scharia festhält und persönliche Freiheiten noch massiver einschränkt als der Iran. Gegen jede Form von Opposition wendet man scharfe, eigens für diesen Zweck eingeführte Gesetze an, die lange Haftstrafen und die Todesstrafe vorsehen. Dabei bedient man sich des »Terror«-Begriffs: Kritische Journalist*innen, Menschenrechtler*innen, Feminist*innen werden als Terrorist*innen eingestuft, weil sie einen Systemwechsel anstreben.

Und nun befürchtet man, dass die Berichte aus dem Iran, die über Sender wie CNN oder Al-Jazeera trotz der Zensur der einheimischen Medien auch in Saudi-Arabien zu sehen sind, eine Protestwelle im eigenen Land auslösen könnten. Denn zwar hatte Kronprinz und de facto-Machthaber Mohammad bin Salman vor einigen Jahren einige wenige Freiheiten für Frauen eingeführt. Die Lage habe sich dadurch bestenfalls von »sehr, sehr, sehr schlecht« auf »sehr, sehr schlecht« verbessert, sagte die Frauenrechtlerin Salma Al-Schehab im Dezember 2020. Einen Monat später wurde sie festgenommen und wegen ihrer Twitter-Nachrichten zu 34 Jahren Haft verurteilt.

Längst versuchen Aktivistinnen, die noch im Land leben, mehr Unterstützung zu finden: »Die Berichte aus dem Iran machen uns Mut«, sagt eine von ihnen. »Wenn wir nur sehr viele sind, dann können sie nicht alle von uns ins Gefängnis stecken.«

Doch an solchen Dissonanzen zeigen sich auch die Schwierigkeiten der Außenpolitik in vielen Ländern, eine Antwort auf die Entwicklungen zu finden: Was, wenn die Proteste im Iran Kreise ziehen, auf andere Länder übergreifen? Eigentlich hätte man, das wird in den Gesprächen mit Politiker*innen und Diplomat*innen in vielen Ländern klar, am liebsten so bald wie möglich ein neues Atomabkommen mit der iranischen Regierung unterzeichnet und wäre dann mit iranischem Öl und Gas im Gepäck in den Sonnenuntergang geritten, erleichtert, dass die Energiekrise zu Hause nun etwas Linderung erführe. Doch nun ist dieser Weg versperrt: Ein umstrittenes Abkommen von solcher Tragweite zu schließen, weiterzumachen, wie bisher, das könnte man der eigenen Öffentlichkeit nicht verkaufen.

Gleichzeitig weiß man mittlerweile, dass Sanktionen zunehmend an Wirkung verlieren. Das iranische Regime hat schlicht gelernt, andere Wege zu finden. Und dann gibt es auch immer noch genug Länder, die dabei einfach nicht mitmachen: Russland, China, Nordkorea.

Die iranische Regierung geht deshalb auf volle Konfrontation: Als das britische Außenministerium in der vergangenen Woche den iranischen Chargé d’affaires Mehdi Hosseini Matin einbestellte, bekam Außenminister James Cleverly eine Tirade an Vorwürfen zu hören: Die britische Regierung plane einen Putsch im Iran, unterstütze Terroristen – Aussagen, die dann wenig später auch die Nachrichtenagentur Tasnim verbreitete und damit Erinnerungen an die Mossaddegh-Affäre weckte. Auch die Bundesregierung hatte den iranischen Botschafter Ende September einbestellt.

Vielleicht gelingt es den Behörden, die Demonstrationen niederzuschlagen. Doch der Wunsch nach Freiheit wird bleiben und spätestens dann wieder zum Thema, wenn der 83-jährige Ajatollah Khamenei stirbt oder abtreten muss.

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