Das ist kein Strafprozess

Zur Arbeit des Untersuchungsausschusses zum Neukölln-Komplex. Ein Gastbeitrag

  • Tanita Jill Pöggel und Sué González Hauck
  • Lesedauer: 6 Min.

Am Freitag ist der Parlamentarische Untersuchungsausschuss des Abgeordnetenhauses, der die fehlende Aufklärung der rechtsextremen Straftatenserie im Berliner Großbezirk Neukölln zwischen 2009 und 2021 durchleuchtet, zum sechsten Mal für eine Sitzung zusammengekommen. Es handelt sich um eine interne Beratungssitzung. Dennoch gibt sie Anlass für eine kurze Reflexion über die bisherige inhaltliche Stoßrichtung sowie die hierbei zutage tretenden Möglichkeiten und Grenzen der Ausschussarbeit.

Im September wurden bereits acht Betroffene zu ihren Wahrnehmungen des sogenannten Neukölln-Komplexes befragt. Die Aussagen bezogen sich auf den Fragenkomplex »E«, also den Umgang der Ermittlungsbehörden mit Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Akteuren. Eine Beobachtung, die sich dabei durch viele Aussagen zog, betraf die dauerhafte Präsenz rechter Strukturen, die bereits lange vor dem Untersuchungszeitraum den lokalen Kontext Neuköllns prägte und den Alltag der Befragten beeinflusst.

Alltäglichkeit rechter Gewalt

So berichtete Claudia von Gélieu als erste Zeugin davon, wie die Galerie Olga Benario in Nord-Neukölln seit ihrer Eröffnung 1984 immer wieder Angriffen durch Neonazis ausgesetzt war. Auch der Zeuge Jürgen Schulte betonte, wie wichtig es ist, die Vorgänge des Neukölln-Komplexes in ihrer wesentlich längeren Geschichte, auch vor 2009, zu verstehen. Für ihn stellte zum Beispiel bereits 2003 ein Schlüsseljahr dar, in dem beim Baumblütenfest in Britz Rechtsextreme mit Holzlatten eine Hetzjagd vor allem auf migrantisierte Besucher*innen gestartet hatten. Insgesamt wurde so ein seit Jahrzehnten vorhandenes Bedrohungsszenario veranschaulicht, in dem die Präsenz neonazistischer Strukturen mal mehr, mal weniger deutlich zum Vorschein kommt.

Neben dieser zeitlichen Einordnung wurde auch das Ausmaß rechter Aktivitäten deutlich. So fokussierte die Rudower Pfarrerin Beate Dirschauer die zahlreichen »kleinen Sachen«, die neben den expliziten Gewaltakten geschehen: Von rechten Schmierereien und Aufklebern über zerrissene Banner bis hin zu zerstochenen Autoreifen zeigt sich somit eine gewisse Alltäglichkeit, in der die Brandstiftungen und Scheibeneinwürfe wenig überraschend erscheinen. Der Zeuge Detlef Fendt, ein ehemaliger Gewerkschafter, betonte, dass solche »ständigen Nadelstiche« einem die latente Gefahr gewalttätiger Anschläge bewusst machten und zur Einschüchterung der Bevölkerung führten. So berichtete auch Dirschauer davon, wie in Rudow bereits Aktionen wie das Sammeln von Unterschriften verworfen wurden, aus Angst, selbst von Anschlägen getroffen zu werden.

Eben weil in der Summe solche »kleinen« Delikte mit den »großen« in Zusammenhang stehen, ist ihre Berücksichtigung in den polizeilichen Ermittlungen von großer Relevanz. An dieser Stelle berichteten jedoch alle Zeug*innen von großer Frustration. So beschrieb Karin Wüst aus der Neuköllner Hufeisensiedlung, wie schnell Verfahren wegen »Geringfügigkeit« eingestellt würden, und Detlef Fendt erklärte, dass er für sich die Entscheidung getroffen hätte, »nicht jeden Sticker und so bei der Polizei zu melden, denn da passiert sowieso nichts«.

Diese Schilderungen bekräftigen den Auftrag des Untersuchungsausschusses, das Ausmaß polizeilichen Ermittlungsversagens ins Zentrum seiner Arbeit zu stellen, und betonen die unschätzbare Rolle, die Betroffene und Aktivist*innen beim Aufzeigen von offiziellen Leerstellen spielen.

Begrenzte Öffentlichkeit

Genau weil diese Perspektiven so wichtig sind, hat das Verhältnis des Untersuchungsausschusses zur Öffentlichkeit von Beginn an eine zentrale Rolle gespielt. So gab es in fast jedem Statement hierzu eine kritische Anmerkung. Einige Betroffene haben zudem im Zusammenschluss mit verschiedenen Initiativen einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie betonten, dass sie vor dem Ausschuss nicht alleingelassen werden dürften und der Ausschuss die Öffentlichkeit mehr wahrnehmen müsse. In Bezug auf den ersten Punkt hat es bereits einen Teilerfolg gegeben, da eine Beistandsperson – zum Beispiel von der Beratungsstelle Reach Out – nun auch zusammen mit den Betroffenen während ihrer Aussage im Ausschussraum anwesend sein darf.

Dennoch gestaltet sich die öffentliche Wirkung des Ausschusses weiterhin schwierig. So kann die Öffentlichkeit an den Sitzungen nur teilhaben, indem sie in einem separaten Raum des Abgeordnetenhauses die Befragungen auf Leinwand übertragen verfolgt. Abgesehen von der sprechenden Person, die hierfür ein Mikrofon nutzen muss, ist dabei nichts zu sehen oder zu hören. Wie es der Zeuge Jürgen Schulte auf den Punkt brachte, ermöglicht ein solcher Ausschnitt nur eine begrenzte Betrachtung und Bewertung der Vorgänge: »Öffentlichkeit muss die gesamte Sitzung abbilden. Dazu gehören Mimik und Gestik sowie der Tonfall, in denen sich eben auch Einstellungen und Haltungen der Mitglieder des Ausschusses ausdrücken.«

Juristische Formalität

Der Untersuchungsausschuss ist geprägt von einem stark formalisierten Verfahren. Der Kritik an der Tatsache, dass die AfD hier vertreten ist, begegnet der Ausschussvorsitzende Florian Dörstelmann (SPD) regelmäßig mit dem Hinweis, dass der U-Ausschuss ordnungsgemäß besetzt sei. Zeug*innen werden immer wieder zur Sachlichkeit ermahnt. So wurde Claudia von Gélieu bereits zu Beginn ihres Eingangsstatements aufgefordert, sich mit eigenen Wertungen zurückzuhalten und die Bewertung der Ereignisse dem Ausschuss zu überlassen.

Was dieses Beharren auf Sachlichkeit betrifft, zeigten sich deutliche Unterschiede im Umgang mit den jeweiligen Zeug*innen. Claudia von Gélieu wurde wiederholt gefragt, wie sie zu ihren Einschätzungen gelangt sei, während ihr Mann Christian von Gélieu immer wieder explizit nach seiner Einschätzung gefragt wurde, ohne dass die dieser Einschätzung zugrunde liegenden Tatsachen noch einmal gesondert erfragt wurden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Christian von Gélieu Jurist ist, also durchaus darin geübt, seine Wertungen in eine scheinbar neutrale Sprache zu kleiden.

Das Beharren auf Formalia, Sachlichkeit, Neutralität wirft die Frage auf, welchen Zweck das erfüllt und somit auch, welche Funktion der U-Ausschuss eigentlich erfüllt. Einige der Befragten äußerten sich sehr deutlich dazu, aus welchem Grund sie den Ausschuss für wichtig halten und welche Erwartungen sie damit verknüpfen. So beschrieb Ferat Koçak, Mitglied der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus und unmittelbar vom Neukölln-Komplex Betroffener, den Ausschuss als letzte Hoffnung vieler Betroffener. Nach verschiedenen Skandalen um rechte Verstrickungen in den Strafverfolgungsbehörden, einem Abschlussbericht der Besonderen Aufbauorganisation (BAO) »Fokus« beim Landeskriminalamt Berlin, der viele Fragen offenlässt, und dem jahrelangen Engagement der Betroffenen um Aufklärung, bleiben ihre Fragen weiterhin unbeantwortet.

Auch wenn also aus Sicht der Betroffenen der Ausschuss dazu dient, eine Lücke zu schließen, die die Strafverfolgungsbehörden gelassen haben: Wichtig ist, dass es sich hierbei nun mal nicht um einen Strafprozess handelt. Während in einem Strafprozess die zu klärende Frage die nach der Schuld der Angeklagten ist, geht es in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss darum, politische Verantwortlichkeiten aufzuklären. Dabei ist es gerade keine »neutrale« Instanz, die die Untersuchung führt, sondern als Parlamentsausschuss ein politisches Gremium, das nicht nur Fakten zusammenträgt, sondern auch politische Schlüsse ziehen kann und soll. Die Einschätzungen der Betroffenen sollten hierbei dringend berücksichtigt werden.

Tanita Jill Pöggel und Sué González Hauck arbeiten für das Projekt Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) in Berlin.

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