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Der Zahnstocher

Olga Hohmann über das Tränenvergießen

  • Olga Hohmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Weltschmerz: Der Zahnstocher

Schon in meiner letzten Kolumne berichtete ich von dem Genuss bzw. der Erleichterung, die es bedeutet, in der Öffentlichkeit Tränen zu vergießen. Es geschah an diesem Samstag, als ich unvorbereitet Zeugin des Berlin-Marathons wurde und mich mit der raren Erscheinung von Kollektivität konfrontiert sah. Vielleicht hatte ich Gefallen am öffentlichen Heulen gefunden, jedenfalls passierte es am selben Tag gleich noch einmal, als ich ein klassisches Konzert besuchte, das mich, ob der Erhabenheit der Musik, der Verve der Musiker*innen und der Versunkenheit der Zuhörenden so sehr berührte, dass ich mich gar nicht mehr einkriegte.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Es war nicht das erste Mal, dass klassische Musik diese Wirkung auf mich hatte: Als Teenager war ich von den Eltern einer Freundin ins Leipziger Gewandhaus eingeladen worden, wo unter anderem »Die Moldau« von Smetana gespielt wurde. Nach kaum einer Minute fing ich an, bitterlich zu weinen, ich war gerade heartbroken nach der Trennung von meinem ersten Boyfriend. Meine Tränen waren, wegen der Schichten an Mascara, die ich aufgetragen hatte, pechschwarz. Ganze zwei Stunden weinte ich schwarze Tränen und befand mich irgendwo zwischen völliger Selbstauflösung, Selbstmitleid und Weltschmerz.

Weltschmerz ist ein von Jean Paul geprägter Begriff, der eine Melancholie beschreibt, bei der ununterscheidbar ist, ob es sich um einen Schmerz bezüglich der eigenen Unzulänglichkeit handelt oder ob man die Unzulänglichkeit der Welt betrauert. Immer wenn ich als Kind melancholisch herumsaß, meistens aus einem eher profanen Grund Trübsal blasend, fragte meine Mutter mich: »Was ist los? Oder ist es nur der Weltschmerz?« Weil ich meistens nicht zugeben wollte, was wirklich los ist, nahm ich den mir fremden Begriff zum Anlass, um zu bestätigen: »Ach, ja, es ist nur der Weltschmerz.«

Das sage ich bis heute, wenn ich nicht zugeben will, welcher Misserfolg mich grumpy stimmt, mich wie im klassischen Konzert verstimmt hat. Dabei ist es eigentlich ganz akkurat, denn meistens ist es ja die alte Mischung aus Minderwertigkeit und Größenwahn, unter der man leidet – ein Gegensatzpaar, das häufig Hand in Hand geht, vor allem in den Berliner Kunstszenen.

Neulich saß ich also, wenige Stunden bevor etwa 150 Leute meine Wohnung okkupierten, um mit mir meinen 30. Geburtstag zu feiern, in dem Restaurant, das sich direkt neben meinem Haus befindet und wo ich besonders gerne lunchen gehe, obwohl das Essen einigermaßen underwhelming ist. Ich sprach am Telefon mit einem Freund und heulte, nennen wir es Weltschmerz. Er saß, so erzählte er mir, bei Obi in Berlin-Neukölln, in der Abteilung für Badezimmerausstattung.

Das Gespräch war einigermaßen emotional, zumindest auf meiner Seite, und ich fragte mich schon währenddessen, wie ich es wohl hinkriege, dass mein Gesicht in den nächsten zwei Stunden wieder so ansehnlich würde, dass ich Gäste empfangen könnte. Dass es 150 werden sollten, hatte ich nicht erwartet, vielleicht hätte es die Sorge um mein Aussehen durch die Sorge um den Zustand meiner Wohnung ersetzt.

Meine Tränen waren nun nicht mehr schwarz, trotzdem behielt das Gesicht irgendwie immer diesen leichten Glanz der Trauer, nachdem ich geweint hatte. Die Kellnerin in dem Restaurant, die ich flüchtig kannte, weil wir uns mal gemeinsam über die Übergriffigkeit ihres Chefs echauffiert hatten, schien gesehen zu haben, dass ich weine – anders als beim klassischen Konzerth konnte ich mich hier nicht verstecken. Das Telefongespräch endete damit, dass mein Handy ausging; ich sah den Freund sowieso kurz darauf bei der Party wieder.

Ich ging zum Counter und wollte bezahlen. Ich hatte dasselbe gegessen, was ich immer aß: Gekochte Karotten mit gekochtem Hähnchenfleisch, das einfachste Gericht der Welt, es kostet 6,50 Euro. Die Kellnerin hatte Mitleid mit mir und wollte mir etwas schenken, um mich aufzuheitern. Sie suchte im Kassenbereich nach etwas Passendem, aber fand nichts, also griff sie in der Eile zu einem der einzeln verpackten Zahnstocher und schenkte ihn mir mit den Worten »Everything will be fine«. Ich hatte nichts zwischen den Zähnen.

Oben angekommen, schickte ich dem Freund ein Foto des Zahnstochers. Er mochte das Layout der Verpackung. Ich legte ihn auf meinen Geburtstagstisch, der sich über den Abend hinweg mit den schönsten Gaben füllte. Und trotzdem: Der Zahnstocher blieb mein wertvollstes Geschenk.

Erst bei meinem nächsten Karotten-mit-Hähnchenfleisch-Lunch fiel mir auf, dass sich im Kassenbereich direkt neben den Zahnstochern auch eine Bonbonschale befindet. Im Nachhinein rechne ich es der Kellnerin noch höher an, dass sie sich statt für die Süßigkeiten für den Zahnstocher entschieden hatte – meine nun wirkungsvollste Waffe gegen den Weltschmerz.

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