nd-aktuell.de / 09.11.2022 / Kultur / Seite 1

Klaffende Wunden

David Cronenberg erzählt in »Crimes of the Future« vom Kunstcharakter einer Operation ohne Betäubung

Florian Schmid
Das ist die Kunst der Zukunft!
Das ist die Kunst der Zukunft!

Der mittlerweile 79-jährige David Cronenberg setzt in seinen Filmen seit nunmehr über einem halben Jahrhundert gerne auf Schockelemente und inszeniert mitunter sehr drastisch die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers. In den Feuilletons wird er regelmäßig als Begründer und wichtigster Vertreter des sogenannten Body-Horror abgefeiert, er selbst weist diese Zuordnung stets zurück.

Cronenberg seziert in seinen filmischen Erzählungen stets mit reichlich Blut, klaffenden Fleischwunden, albtraumhaften Apparaten und Monstern, mitunter auch mit Ekel und jeder Menge Gewalt menschliche und gesellschaftliche Abgründe. Das kann mal ganz avantgardistisch und medienkritisch daherkommen wie in dem Film »Videodrome« (1983), der ihn in den 1980er Jahren zum Kultregisseur machte, aber auch literarisch wie in der Adaption von William Burroughs »Naked Lunch« (1991) oder massenkompatibel wie im starbesetzten Hollywood-Blockbuster »A History of Violence« (2005). Im letztgenannten Film spielt Viggo Mortensen, mit dem David Cronenberg schon mehrere Filme drehte, ebenso die Hauptrolle wie in seinem neuen Film »Crimes of the Future«, der in diesem Frühling in Cannes seine Premiere feierte. Im Wettbewerb um die Goldene Palme ging er zwar genauso leer aus wie die anderen fünf Filme, mit denen Cronenberg schon in früheren Jahren am Wettbewerb teilgenommen hatte, wurde aber mit minutenlangen Standing Ovations bedacht.

»Crimes of the Future« erzählt von einer nicht allzu weit entfernten zukünftigen Welt, in der Menschen kaum mehr Schmerz verspüren und ihnen immer wieder neue Organe wachsen. Diese neuartigen, bisher unbekannten Organe in einer Operation ohne Betäubung vor Publikum zu entnehmen, wird zur künstlerischen Praxis. Zu bekannten Stars dieser Kunstform werden die Performance-Künstler Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux). Die Geschichte ist im weitesten Sinn auch an die Subkultur der Body Modifcation angelehnt beziehungsweise von ihr inspiriert. In der Fiktion versuchen staatliche Behörden, unter anderem ein Nationales Organ Register und eine spezielle Abteilung der Polizei, diese neuen menschlichen Evolutionsschritte und deren Inszenierung zu erfassen und zu kontrollieren.

Denn neben der öffentlichen und künstlerischen Zurschaustellung sich verändernder Körper und deren spektakulärer Modifizierung gibt es auch illegale und im Verborgenen stattfindende Praktiken operativer Eingriffe. Als Lang Coctrice (Scott Speedman), der zu einer Gruppe Menschen gehört, die sich als Akt politischen Widerstands von giftigem Plastikmüll ernähren, was sie nur mithilfe einer bestimmten Operation überleben, auf die Performance-Künstler zukommt und sie bittet, seinen toten Sohn, der angeblich einen weiteren evolutionären Schritt vollzogen hat, öffentlich zu sezieren, schalten sich im Hintergrund die Ermittlungsbehörden ein.

»Crimes of the Future« wurde in Athen gedreht. Die heruntergekommenen und mit Graffitis begemalten Gassen bilden den Hintergrund dieser fast auf jegliche futuristische Ästhetik verzichtenden Science-Fiction-Erzählung. Es gibt einige seltsam anmutende Apparate, die aus Knorpel, Knochen und Haut zu bestehen scheinen und die so aussehen, als würden sie von einem gruseligen Raumschiff oder dem Filmset von Cronenbergs 90er Jahre Filmerfolg »eXistenZ« stammen. Etwa ein vollautomatischer Autopsie-Sarkophag, der für die Operationen während der Performance genutzt wird, bei dem Caprice Paul Organe entnimmt. Und Paul Tenser hat ein Bett, das an eine überdimensionale Nussschale mit in die Decke reichenden Tentakeln erinnert, die an seiner Haut angebracht werden, um seinen Schmerzstatus zu überprüfen. Aber die Räumlichkeiten in diesem Film sehen heruntergekommen und vorgestrig aus.

Das Nationale Organ Register verfügt über keine Computer, stattdessen stapeln sich sepiafarbene Aktenberge in wackligen Regalen. Wippet (Don McKellar), der Leiter des Registers und seine Mitarbeiterin Timlin (Kristen Stewart) freunden sich mit den Performance-Künstlern an, die bald inmitten einer mörderischen politischen Intrige stecken und sich auf ihren nächsten großen Auftritt vorbereiten.

Die Wandlungsfähigkeit menschlicher Körper, egal ob vermeintlich zufällig als evolutionäres Ereignis oder als bewusst vorgenommene Modifikation, ist in Cronenbergs Film stets sexuell aufgeladen. »Operieren ist der neue Sex«, haucht irgendwann Timlin, die an Saul Tenser äußerst interessierte Angestellte des Nationalen Organ Registers, dem Performance-Künstler stöhnend ins Ohr.

Überhaupt wird jede Wendung in dieser Geschichte etwas zu vorhersehbar als sexuelles Moment inszeniert, bei dem Frauen dann auch noch meist stöhnend coolen Männern hinterherhecheln. Das nervt mitunter enorm. Aber auch die hingebungsvolle Zurschaustellung von Fleisch und Körpern in ihrer Verletzlichkeit, der mitunter bemüht wirkende Tabubruch, wenn etwa an einem leblosen, ermordeten Kinderkörper eine Autopsie vorgenommen wird, erzeugen nicht wirklich ein emanzipatorisches oder gesellschaftskritisches Narrativ, um Gewalt und deren Kommodifizierung zu hinterfragen. Vielmehr werden die Gewalt und die Modifizierbarkeit menschlicher Körper in möglichst grellen und schockierenden Bildern als vermeintlich künstlerisch reflektierter Akt reproduziert.

»Crimes of the Future«: Kanada/Frankreich/Griechenland/Großbritannien 2022. Regie: David Cronenberg. Mit: Viggo Mortensen, Kristen Stewart, Léa Seydoux, Scott Speedman.
108 Minuten. Start: 10.11.