In der Krise Essen von hier

Regionale Ernährungswirtschaft klagt: »Uns steht das Wasser bis zum Hals«

  • Matthias Krauß
  • Lesedauer: 3 Min.

»Kauft regionale Lebensmittel – jetzt erst recht!« Mit einem leidenschaftlichen Appell wandten sich am Montag die Vertreter der brandenburgischen Lebensmittelfirmen an die Kunden in Berlin und Brandenburg. Die Entscheidung für Produkte von hier entscheide über das Überleben einer ganzen Branche.

Es werde keine Zurechtweisung der Kunden geben, denn »nur gemeinsam können alle Marktpartner diese Krise überwinden«, versicherte die Vorsitzende der Marketingorganisation Pro Agro. Hanka Mittelstädt ist selbst Landwirtin und Inhaberin der Ucker-Ei GmbH. »Das Wasser steht uns bis zum Hals«, sagte Mittelstädt. Lieferte ihre GmbH im Vorjahr noch 120 000 Eier täglich an den Handel, so seien es jetzt noch 100 000. »20 bis 30 Prozent Umsatzeinbruch meldet die gesamte Branche, der eine mehr, der andere weniger«, setzte sie hinzu. Hofläden erleiden ihr zufolge Umsatzeinbußen von rund 40 Prozent. Vor allem Klein- und Kleinstunternehmen seien in Schwierigkeiten, aber auch die Großen hätten zu kämpfen. Auf Nachfrage bestätigte die Landwirtin, dass sich die realen Lebensmittelpreise keineswegs nur um die offiziell angegebenen zehn Prozent erhöht hätten, sondern um bis zu 50 Prozent und mehr. Im Rahmen der Kampagne werde man übers Radio und auf Wochenmärkten Werbung machen. Mittelstädt forderte die Politik auf, Botschafter der heimischen Lebensmittelindustrie zu werden.

Erzwungene Sparsamkeit veranlasst viele Menschen, in den Kaufhallen zu sogenannten No-Name-Produkten zu greifen, weil die noch am billigsten sind. Der Handel reagiert auf dieses Käuferverhalten und nimmt den regionalen Bauern weniger Produkte ab.

»Wir wollen darstellen, dass es zehn nach zwölf ist«, warnte Sebastian Kühn, Geschäftsführer des Fleischbetriebs Eberswalder Gruppe, die 505 Mitarbeiter beschäftigt. Es stünden Tausende Jobs auf dem Spiel. Keineswegs ist die schwierige Lage laut Kühn durch den Krieg in der Ukraine entstanden, aber durch den Krieg noch verschärft worden. Preiserhöhungen für Rohwaren, Energie und Gewürze seien schon zuvor zu beobachten gewesen. Seine Firma erwirtschafte 100 Millionen Euro Umsatz im Jahr, mit 15 Millionen Euro zusätzlichen Kosten müsse gerechnet werden. Kühn zufolge »geht es um den Erhalt von Strukturen, die ohnehin nur noch spärlich vorhanden sind«.

Wenn sich das Blatt nicht rasch und deutlich wendet, werde es »Betriebsschließungen in Größenordnungen« geben, warnte Tobias Exner, Inhaber einer Traditionsbäckerei in Potsdam. Kürbiskerne aus China seien halb so teuer wie einheimische, aber minderwertiger, erklärte er. Für die Energie sei teils das Zehnfache zu bezahlen, für Rohstoffe das Vierfache. Die Personalkosten hätten sich in zwei Jahren um 25 Prozent erhöht. »Die Kollegen weinen am Telefon.« Exner forderte Maßnahmen der Politik: Die Förderung der Digitalisierung auf dem flachen Land sei ungenügend, die Verkehrswege seien oft nicht in Ordnung.

Bäckermeister Exner schilderte große Unterschiede im Kaufverhalten. In Bayern würden fast zwei Drittel aller Brote beim Bäcker gekauft, in Berlin nur jedes zehnte. »Der Franzose geht dreimal am Tag zum Bäcker, weil er sein Baguette nur so wirklich frisch erhält.« Nirgends auf der Welt würde der Anteil dessen geringer sein, was die Menschen für Lebensmittel ausgeben als in Deutschland. In der nächsten Zeit werde sich herausstellen, »was wir in Zukunft wollen«. Das Brot könne auch aus Polen kommen. Oder man steuere beim Lebensmittelangebot auf einen »Einheitsbrei« wie in den USA zu, wo sechs Konzerne den Markt unter sich aufgeteilt haben.

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