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Tote Soldaten und tote Fische

Sehnsucht nach Frieden beim Bürgerdialog in Frankfurt (Oder)

Wenn eine Märchenfee käme und Oberbürgmeister René Wilke (Linke) hätte drei Wünsche frei, wofür würde er sie benutzen? Der Rathauschef von Frankfurt (Oder) muss am Dienstagabend nicht lange überlegen: »Frieden«. Das wünschen sich momentan die meisten Menschen, ist er überzeugt. Dann hätte der Politiker gern das geplante Zukunftszentrum für deutsche Einheit und osteuropäische Transformation. Frankfurt (Oder) bewirbt sich darum. Wenn die Stadt Anfang kommenden Jahres den Zuschlag erhält, bezahlt der Bund 200 Millionen Euro für den Bau, der 2028 oder 2029 fertiggestellt sein könnte. Der Bund übernimmt dann auch die Lohnkosten der 180 bis 200 Mitarbeiter. Außerdem winken der Stadt an der Grenze zu Polen durch dieses Zentrum eine Million Besucher im Jahr. Drittens würde sich Wilke von der Märchenfee wünschen, »dass aus unterschiedlichen Meinungen keine Feindschaften entstehen«. Denn das Gesprächsklima in der Gesellschaft bereitet ihm Sorgen.

Damit stimmt der Oberbürgermeister Wilke ein auf den Bürgerdialog von Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) im Kleist-Forum von Frankfurt (Oder). Beide Politiker verstehen sich gut, obwohl sie unterschiedlichen Parteien angehören. Wilke hat Woidke auch gewählt – früher, als er Landtagsabgeordneter war und es in Brandenburg eine rot-rote Koalition gab. Denn der Landtag wählt ja den Ministerpräsidenten.

Einwohner von Frankfurt (Oder) und Bürger aus der Umgebung stellen überwiegend sachliche Fragen und erhalten Auskunft von Woidke oder je nach Fachgebiet von einem seiner anwesenden Minister und Staatssekretäre. Einer aus Russland stammenden Studentin gefällt nicht der verklärte Blick vieler Ostdeutscher auf die Sowjetunion, der die Studentin Völkermord und andere Verbrechen vorwirft. Sie möchte wissen, warum es noch sowjetische Ehrenmale gebe. Es bestehe eine rechtliche Verpflichtung, diese Ehrenmale zu pflegen, erklärt der Ministerpräsident. »Ich persönlich halte sehr viel davon, an die Gefallenen zu erinnern«, betont er. Denn es werde dort nach seinem Eindruck nicht die Sowjetunion glorifiziert, sondern an die Soldaten erinnert, die für die Befreiung Deutschlands vom Faschismus ihr Leben ließen. Für diese Aussage erhält der SPD-Politiker ziemlich ungeteilten Applaus.

Etwas gespalten ist das Publikum bei mehreren Fragen zur Corona-Pandemie. Bei den Protest-Spaziergängen in der Stadt haben sich Teilnehmer verabredet, bei dem Bürgerdialog aufzukreuzen und sich über frühere und noch geltende Corona-Maßnahmen zu beschweren, etwa über die aktuelle Maskenpflicht in Bus und Bahn. Diese Leute sitzen von Woidke aus gesehen rechts vorn. Der Regierungschef möchte sich hier allerdings nicht dafür entschuldigen, dass er bei der Bekämpfung der Pandemie auf die Wissenschaft gehört hat. »Ich würde es wieder tun«, versichert er. Ob nun jemand, der an einem Herzinfarkt starb, aber mit dem Coronavirus infiziert war, als Corona-Toter gezählt wurde, das weiß Woidke nicht. Die Statistik werde einheitlich vom Robert Koch-Institut geführt. Fest stehe aber, dass viele an Corona gestorben sind, sagt Woidke. Er ist ganz sicher: »Impfen rettet Leben.« Da wird vorn rechts nicht geklatscht, dafür im restlichen Saal umso mehr. Diese geteilte Meinung wundert Woidke keineswegs. In seinem Büro hatte er zwei Stapel mit Briefen aufgeschichtet, in denen sich Bürger beschwerten, dass die Regierung entweder viel zu viel oder viel zu wenig gegen die Pandemie unternehme.

Zuversichtlich ist Woidke, was die PCK Raffinerie in Schwedt betrifft. Dort soll künftig klimaneutrales Flugbenzin produziert werden. »80, 90 Millionen Euro EU-Mittel«, so berichtet der Politiker, sollen dazu in einen Innovationscampus fließen. Bis sich das in Arbeitsplätzen auszahle, werde es drei oder vier Jahre dauern. Doch einstweilen gebe es ja eine staatliche Beschäftigungsgarantie für die 1200 Mitarbeiter der Raffinerie. Wenn Deutschland ab Anfang 2023 auf russisches Erdöl verzichtet, soll Öl von anderswo herangeschafft werden, zum Beispiel via Hafen Gdańsk. Eine Probelieferung auf diesem Wege habe schon funktioniert.

Sorge bereitet die Salzkonzentration in der Oder. Jüngsten Messungen zufolge ist sie erneut zu hoch. Das hatte im Sommer ein massives Fischsterben ausgelöst und dazu könnte es wieder kommen. Mit der Marschällin der benachbarten polnischen Woiwodschaft duzt sich Woidke und könnte Lösungen mit ihr beraten. Doch bedauerlicherweise würde ein Telefonanruf bei ihr nichts nutzen. Denn Polen zentralisierte die Zuständigkeit für die Gewässer in der Hauptstadt Warschau. »Ich bin ein bisschen ratlos«, gesteht Woidke. Ein Anruf bei Oberbürgermeister Wilke lohnt sich dagegen in jedem Fall. Hinterher habe er immer bessere Laune, erzählt Woidke. Ihn beeindruckt der Optimismus, mit dem Wilke die Stadt schon spürbar vorangebracht habe.

Der Saal im Kleist-Forum ist gut gefüllt, aber lange nicht bis auf den letzten Platz. Einen Abend zuvor war der Bundestagsabgeordnete Gregor Gysi (Linke) hier zu Gast. »Da waren mehr Leute da«, erzählt die parteilose Stadtverordnete Angelika Schneider, die zur Fraktion der Grünen gehört. Sie hat sich Gysi genauso angehört wie Wodike und fand beide Veranstaltungen sehr interessant.

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