Gegen das halbe Glück

Vor 100 Jahren starb Marcel Proust. Über das unwillkürliche Erinnern – und was es bedeutet, von Theodor W. Adorno geliebt zu werden

  • Ioannis Dimopulos
  • Lesedauer: 6 Min.
Zu Ehren von Marcel Proust und dessen Verehrer Theodor W. Adorno backen wir eine Portion Madeleines
Zu Ehren von Marcel Proust und dessen Verehrer Theodor W. Adorno backen wir eine Portion Madeleines

Ein sehr berühmter erster Satz: »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.« Damit intoniert der wohl gewaltigste Romanzyklus der Welt. Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ist seitdem ein gern benutztes Schlagwort im Kulturbetrieb. Es gibt jedoch nur sehr wenige Menschen, die die über 4000 Seiten Text ausgelesen haben. Es lohnt sich, es einmal zu versuchen.

Schon im ersten Satz ist der Roman in seiner Gänze enthalten. Der Protagonist Marcel berichtet von einer auf den ersten Blick unspektakulären Erfahrung. In der Dunkelheit der Nacht aufzuwachen und sich alleine in seinem Bett vorzufinden, ist aber genau das, was auf den nächsten 4000 Seiten entfaltet wird. Nicht einschlafen zu können, mitzuerleben, wie die Gedanken kreisen, und auf den erlösenden Schlaf zu warten, das ist für ihn das Einfallstor für alles, was am Tag nicht erlebbar ist.

Wie Nietzsches Zarathustra fragt: »Was spricht die tiefe Mitternacht«, so kreisen die Versuche Marcels, sich an seine Kindheit zu erinnern, um das Drama des einsamen Zubettgehens. Nur dies ist ihm in seiner Erinnerung an Combray, wo er einen Teil seiner Jugend verbrachte, zugänglich. Es war, »als habe Combray nur aus zwei durch eine schmale Treppe verbundenen Stockwerken bestanden und als sei es dort immer und ewig sieben Uhr abends gewesen«. Die Treppenstufen zum Bett heraufzugehen, scheint als eindringliche Erinnerung den Rest seiner Kindheit verborgen zu halten. Marcel unternimmt nun den Versuch, das Verborgene zu erhellen. Das Problem ist jedoch, dass sich diese Erfahrungen nicht bewusst erinnern lassen.

Es ist dieser Ausgangspunkt, der Prousts Roman so bedeutend macht. Denn im Versuch die Vergangenheit hervorzuholen, scheitert die Vernunft. Ihr erschließt sich das Vergangene nur als Unglück, das bruchstückhaft und leblos ist. Die Vernunft erscheint im Zuge des Erinnerns als prekär, da sie im Versuch, das Vergangene in die Gegenwart zu überführen, scheitert.

Dann aber passiert das Entscheidende: Marcel bekommt an einem regnerischen Tag von seiner Mutter eine Tasse Lindenblütentee mit einem Stück Gebäck serviert: »In der Sekunde nun, da dieser mit den Gebäckkrümeln gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt.«

Dass gerade ein in Lindenblütentee getunktes Gebäck in der Lage ist, dies auszulösen, macht Proust zum vielleicht bedeutendsten Romancier des 20. Jahrhunderts. Denn das berühmteste Gebäck der Literaturgeschichte, ein Madeleine in Form einer Jakobsmuschel, ist Proust großer Beitrag zur narzisstischen Kränkung: Das, was unsere Vernunft nicht zu leisten vermag, vermag ein in Tee getunktes Stück Kuchen. Das Glücksgefühl, das er erfährt, entsteht aus dem plötzlichen Aufscheinen der Vergangenheit in ihrer ganzen Lebendigkeit.

Das Madeleine ist für Proust wie der Eintopf der Großmutter, bei dem Kindheitsmomente uns überfallen und in eine Zeit zurückführen, in der wir dieses Erlebnis bereits erfahren haben. Vergangenheit und Gegenwart fallen ineinander, heben sich aus dem Zeitgefüge heraus und bilden einen flüchtigen, aber intensiven Moment des Glücks. Erst die Mémoire involontaire, ein unwillkürliches Erinnern, das nicht bewusst hervorgeholt werden kann und deshalb auch kein Teil der Vernunft ist, macht das leblose und bruchstückhafte Erinnern des Geistes überhaupt lebendig.

Entscheidend ist dabei die Flüchtigkeit, denn diese Momente sind von kurzer Dauer und lassen sich nicht unendlich oft wiederholen. Auch lassen sie sich nicht in Begriffe überführen. Prousts folgende 4000 Seiten sind der Versuch, die Flüchtigkeit dieser lebhaften Erinnerungen in der Literatur festzuhalten. Sein Romantitel ist also programmatisch. »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ist der Versuch, die Flüchtigkeit der Erinnerungen in ihrer ganzen emotionalen und epistemischen Gewalt im Kunstwerk festzuhalten.

Dass dieser Plan von erheblicher Bedeutung ist, bemerkt man bei dem wohl größten deutschen Liebhaber des Proust’schen Œuvre: Theodor W. Adorno. Denn Proust rahmt das Werk Adornos geradezu ein. Man kann von einer innigen Leidenschaft Adornos gegenüber Proust sprechen, da der sonst theoretisch so versierte Sozialphilosoph, der so komplex sprach, wie seine Bücher zu lesen sind, in seinen Proust-Kommentaren manchmal seine gedankliche Stringenz und Souveränität verliert. So äußert Adorno in einer prägnanten Stelle der »Noten zur Literatur«, dass im Zusammenhang mit Proust »der Anspruch kritischer Überlegenheit auf Unverschämtheit hinausliefe«.

Damit gibt Adorno nicht nur eine Schwäche zu, sondern hält einem seiner schönsten Gedanken zur Kunstbetrachtung die Treue: der Versenkung ins Kunstwerk. Was auf den ersten Blick diffus klingt, ist eine bekannte Erfahrung, die wir im Umgang mit Musik, Film oder Literatur machen. Es gibt Momente, in denen man sich in der Kunst verliert und es so scheint, als wäre die Distanz zwischen Kunstwerk und Betrachter kurzzeitig aufgehoben, man selbst Teil von ihm. Peinlich berührt schreckt man auf, man findet sich berührt vor oder weiß nicht, was einem gerade widerfuhr.

Diese Versenkung lässt sich verstehen als eine Hingabe des Betrachtenden in das Kunstwerk. Es stellt sich nicht mehr die Frage, was das Kunstwerk uns denn sagen will, vielmehr ist die Erfahrung des Kunstwerks ein Sich-Hingeben, das uns für einen kurzen Moment aus unserer festen Identität und den Grenzen der Vernunft herauslöst. Adorno tritt aus dieser Hingabe nicht gänzlich heraus, sondern erfährt die Erinnerung ans Proust’sche Werk in jeder Auseinandersetzung erneut als Hingabe, sodass sein Schreiben davon nicht unberührt bleiben kann.

Adornos Kritik der instrumentellen Vernunft und des Absterbens des Besonderen und Partikularen findet sich in Prousts Madeleine verborgen. Denn so, wie der kleine Kuchen uns der Begrenztheit unserer Vernunft überführt, so erweist Proust für Adorno ein »enthusiastisches Vertrauen auf den Wahrheitsgehalt des Inkommensurablen«. Gerade das, was in unserer Vernunft nicht aufgeht, sich gegen seine Auflösung in Begriffe und Theorien sträubt, fungiert als Statthalter gegen den Versuch, das konkrete Leben in der Abstraktion des Denkens aufzulösen. Wie bereits Platon wusste, sind alle Begriffe Momente des Erinnerns und des Wiedererkennens, was sie somit immer bereits mit konkretem Leben füllt. Es wäre also ein Fehler, den abstrakten Begriff mit dem damit Bezeichneten gleichzusetzen.

Im kleinen Kuchen offenbart sich deshalb auch, dass die Dinge, die uns umgeben, nicht tot sind, sondern mit uns sprechen und in der Lage sind, den Absolutheitsanspruch des Denkens abzumildern. Die Dinge sprechen mit uns und lösen Erinnerungen und Gefühle aus, weil sie uns gegenüber nicht absolut verschieden, sondern verdammt ähnlich sind. Es müsse deshalb darum gehen, die Dinge zu uns sprechen und uns im besten Falle berühren zu lassen. Dass Adorno in seiner Auseinandersetzung mit Proust dieser Devise Raum gibt und sich ihr hingibt, ist damals wie heute vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten, unseren instrumentellen Umgang mit der Welt im Anschmiegen mit den Dingen zu verändern. Die Eule der Minerva täte vielleicht ganz gut daran, ab und zu ein Madeleine zu essen.

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