nd-aktuell.de / 01.12.2022 / Kultur / Seite 1

Typograf und Grafotyp

Die Galerie 100 in Berlin-Lichtenberg zeigt das Werk von Matthias Gubig

Hans-Eberhard Ernst
Grafik aus dem Buch »Ein Mensch sollte imstande sein« (2009)
Grafik aus dem Buch »Ein Mensch sollte imstande sein« (2009)

Es sind Plakate, Illustrationen, Buchseiten, Leporelli, Handpressendrucke und vieles mehr. Die Galerie 100 in Berlin-Lichtenberg zeigt mit »Bilder und Bücher – Zeitzeichen aus fünfzig Jahren« das Werk des 80-jährigen Grafikers und Buchgestalters Matthias Gubig. Man kann dort grafische Arbeiten aus den letzten Jahren sehen, aber auch eine Auswahl älterer Arbeiten, die an Aktualität nichts eingebüßt haben. Blätter, die die Welt bedeuten, nicht die ganze Welt, aber zeitgemäße Zeichen sind auf der Suche nach Antworten auf die Frage: »In welch einer Welt leben wir, in welch einer Zeit, in welch einer Gesellschaft …?«

Um solcherlei Antworten bemühten sich schon Plinius und Tacitus, Galilei musste dafür zu Kreuze kriechen und Giordano Bruno wurde deshalb verbrannt. Matthias Gubig verbündet sich mit ihnen, druckt erneut ihre Texte und macht uns auch mit den Erkenntnissen Dantes und Machiavellis, den Träumen und Zweifeln Georg Christoph Lichtenbergs bekannt, lässt auch Franz Kafka und Karel Čapek zu Wort kommen und begleitet Volker Braun und Christoph Hein bei ihrer Erkundung der Widersprüche und Ungereimtheiten unserer Welt.

Seine Bildbeigaben deuten, ergänzen und kommentieren, setzen Zeichen, visualisieren die Welterkundungen. Dafür steht ihm ein buntes Figuren-Panoptikum zur Verfügung, Narren und Potentaten sind seine Darsteller, Seiltänzer, Turmbauer und Schiffbrüchige sowie die Global Player und Investmentbanker unserer Zeit. Das Buch ist seine Bühne, seine Szene die Doppelseite und das Leporello seine Inszenierung mit Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung. Metaphern für rätselhafte Ereignisse und vielsagende Worte, Wörtern und Unwörtern, »komischen Vögeln« und »preußischen Tugenden« begegnen wir in seinen Bildern und Büchern.

Matthias Gubig wurde 1942 in Dresden[1] geboren, der Vater an der Ostfront[2] vermisst, Mutter und Sohn überlebten das Inferno der Dresdner Bombennacht im Februar 1945, verloren all ihre Habe, flohen in die Oberlausitz und fanden in Löbau Aufnahme. Erste Bücher und Bilder bekam schon der kleine Knabe in die Hand unter dem Büchertisch der Bibliothek, in der seine Mutter arbeitete. Ohne Vater und zeitweilig auch ohne Mutter verbrachte er frühe Jahre in Kinderheimen. Als Buchdruckerlehrling im Löbauer Druckhaus weihte man ihn in die Geheimnisse der Schwarzen Kunst ein. Als Schriftsetzer beendete er 1962 seine Ausbildung. Dem jungen Facharbeiter stand im Arbeiter-und Bauernstaat der Weg zu einem Studium offen, sogar zu einem Kunststudium. So begann er 1963 an der Fachschule für Angewandte Kunst in Berlin-Oberschöneweide mit dem Studium der Gebrauchsgrafik.

Während des Studiums der Schönheit und Sinnlichkeit der 26 Zeichen des Alphabets, der Schrift als Schatzkammer und Werkstatt menschlichen Geistes, entwickelte er ein gründliches und inniges Verhältnis zu Lettern, Typen und Buchstaben, das sein Berufsleben prägte. Nach Praxisjahren im Theater der Freundschaft und in einer Zeitschriftenredaktion kehrte er als Lehrer für Typografie an seine Fachschule zurück und erwarb nebenbei an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig ein Diplom.

Seit 1978 war er als freiberuflicher Buchgestalter und Gebrauchsgrafiker tätig und trug mit anspruchsvoll gestalteten Büchern und Buchreihen bei vielen Verlagen wesentlich zur Buchkultur der DDR bei. Mehrfach erhielt er Auszeichnungen bei den Wettbewerben »Die schönsten Bücher der DDR« und »100 beste Plakate«. 1984 erwartete ihn dann der nächste Lehrauftrag für Typografie an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee. Auf der Internationalen Buchkunstausstellung Leipzig erhielt er 1989 die Goldmedaille.

Da brach die DDR zusammen, der Links-Staat versank, der Rechtsstaat kam, Institute wurden abgewickelt und Lehrkräfte evaluiert, auch die Kunsthochschule stand auf der Kippe. Friedliche Revolution? Aufbruch? Umbruch? Fragezeichen als Zeichen der Zeit. Matthias Gubig machte Plakate: »Wir sind das Volk« rufen gemeinsam Wölfe und Schafe und im Kampf um die Kunsthochschule »Berliner EinheitsKunst«. Wie überall wurden die Eliten ausgetauscht. Auch er musste sich um das Lehramt neu bewerben. Er gehörte zu den wenigen, die weitermachen durften. Typografen wissen eben mit »Umbrüchen« umzugehen, der Umbruch gehört zum Handwerk. 1992 wurde er Professor im Bereich Visuelle Kommunikation. Als Buchgestalter erhielt er 1997 in der Ausstellung »Schönste Bücher aus aller Welt« eine Bronzemedaille. 15 Jahre lang gab er sein Wissen und seine Erfahrungen an die nächste Generation weiter. Eine wahre Bilderbuchkarriere, von den Lehrjahren des Knaben in der Löbauer Druckerei bis zu den Lehrjahren als Professor in Weißensee. Danach konnte er nun endlich Bilder finden und Bücher gestalten, die er selbst herausgibt, illustriert und druckt, mitunter auch selbst schreibt: »Spätdrucke«. Auch diese kostbaren, bibliophilen Bücher sind in der Galerie 100 zu sehen und zu genießen.

»Matthias Gubig: Bilder und Bücher. Zeitzeichen aus fünfzig Jahren«, bis zum 18. Dezember, Galerie 100, Berlin

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1168410.franz-lenk-unpolitische-landschaften.html?sstr=dresden
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1165993.kriegszeit-eine-stunde-null-ist-nicht-zu-erkennen.html?sstr=ostfront