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Horizont ohne Weite

»Und jetzt?« fragt René Pollesch: Der Intendant der Berliner Volksbühne hat zur letzten Premiere dieses Jahres im Großen Haus geladen

In diesem Bühnenbild bewegen sich drei Spieler, die den Raum zu beherrschen wissen: Martin Wuttke, Milan Peschel und Franz Beil.
In diesem Bühnenbild bewegen sich drei Spieler, die den Raum zu beherrschen wissen: Martin Wuttke, Milan Peschel und Franz Beil.

»Und jetzt?«, heißt das neue Stück von Volksbühnen-Intendant René Pollesch, das am Freitag uraufgeführt wurde. Und ebendiese Frage kommt man nach den 90 Minuten Vorstellung nicht umhin, sich selbst zu stellen: Und jetzt? Was war das, und was sollte das eigentlich?

Aber der Reihe nach: Wir befinden uns in einem Staat, den es heute nicht mehr gibt. Ende der 60er Jahre. Gerhard Winterlich, der Leiter des Arbeitertheaters des Petrolchemischen Kombinats (PCK) in Schwedt, will ein Stück auf die Bühne bringen. Es heißt »Horizonte« und durchmisst die Möglichkeiten von Automatisierung und computergestützter Technik. Die geplante Adaption durch die Berliner Volksbühne – die Theatergrößen Heiner Müller und Benno Besson haben das Vorhaben initiiert – war, gelinde gesagt, krisenbehaftet. William Shakespeares »Sommernachtstraum« trifft auf eine lichte DDR-Zukunft.

Einige Dekaden und Zeitenwenden später nimmt man sich also an der Volksbühne, immerhin mit einer ganz eigenen tradierten Verbundenheit mit der Arbeiterklasse, noch einmal des Stoffs an. Als Ideengeber fungierte die freie Theatergruppe andcompany&co., die unter dem Titel »Neue Horizonte: Eternity für alle!« dasselbe Stück im vorvergangenen Jahr ausgegraben und zur Erneuerung freigegeben hatte. Steht diese Wiederholung im Zeichen eines vergessen geglaubten Theatergeschichtsbewusstseins oder doch nur einer innerbetrieblichen Eitelkeit?

Für den Intendanten hat Anna Viebrock eine ihrer liebevoll melancholischen Bühnen entworfen. Eine verloren wirkende Freiluftbühne en miniature wurde auf die endlos scheinende Spielfläche des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz gestellt. Links und rechts davon je eine leere metallene Zuschauertribüne. Ein Stück Trostlosigkeit, das bald schon von einem Shakespeare’schen Wald erfüllt wird.

In diesem Bühnenbild bewegen sich drei Spieler, die den Raum beherrschen: Martin Wuttke, Milan Peschel und Franz Beil. Sie alle wissen, wie sie das Publikum in Bann nehmen können, sie alle kennen ihre Kniffe und das richtige Timing für Spielwut und Situationskomik. All das verfängt an diesem Abend jedoch nicht, weil der Regisseur sich für seinen Stoff nicht recht zu interessieren scheint und so auch im Zuschauersaal Interesse kaum geweckt werden kann.

Sodann wird also an der Bühnenrampe der alte Witz erzählt, ob jemand gut zu vögeln sei – wahlweise mit großem oder kleinem V. Ernst gemeint ist so ein kleiner Scherz natürlich nicht. Und überhaupt meint es auf dieser Bühne in letzter Zeit recht selten jemand noch wirklich ernst. Stattdessen versteckt man sich hinter einer sanften Ironie in postironischen Zeiten. Oder hinter großer Bedeutungsoffenheit – am Rande der Bedeutungslosigkeit.

René Pollesch ist seit Jahrzehnten bekannt als theorieaffiner Regisseur. Mit Verve hat er einiges an Philosophie alles andere als bieder auf die Bühne transportiert. In den letzten Jahren lässt er seine Darsteller immer häufiger über Kunst und Theater nachdenken. Umwerfend ist ihm das mit »Bühne frei für Mick Levčik« 2016 am Schauspielhaus Zürich gelungen, und auch seine Versuche am Deutschen Theater Berlin gingen in diese Richtung. In »Und jetzt?« kalauern sich die Figuren aber nur noch von Szene zu Szene, mit wenig Erkenntnisgewinn.

Dass Arbeitertheater durchaus ein Thema sein könnte oder die Frage, wen Kunst in diesen Zeiten angeht, davon merkt man nichts. Die Rationalisierung der Ökonomie, der Einzug der Kybernetik in die Planwirtschaft und die Zukunft der Arbeit stehen im Zentrum von Winterlichs »Horizonte«. Für Pollesch ist das nur Anlass für ein bisschen Geplänkel für das wohlmeinende Stammpublikum, aber nicht für eine wirkliche Auseinandersetzung. Und auch von dem Umstand, dass das Schwedter Erdölverarbeitungswerk in Zeiten des Kriegs plötzlich wieder medial eine Rolle spielt, weiß diese Theaterarbeit nichts von Dringlichkeit zu berichten.

Es gibt keine Pflicht, jeder Fährte, die ein Stoff bereithält, nachzugehen. Aber ein paar Ideen, die über bloße Einfälle hinausgehen, etwas mehr Tiefgang und auch lustvolleres Spiel darf man von dem Regisseur, bei dem man all das schon mal erleben durfte, doch erwarten. Sonst verlässt man nur ratlos den Saal. Und jetzt?

Nächste Vorstellungen: 10., 26.12. und 7.1.
www.volksbuehne.berlin

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