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Wahrheit und Dichtung

Ein Lyrikabend am 11. Dezember 1962 kostete Stephan Hermlin seine Anstellung. 60 Jahre später will sich niemand an die Veranstaltung erinnern, auch nicht an den Veranstalter

  • Karsten Krampitz
  • Lesedauer: 7 Min.
Stephan Hermlin diskutiert nach einer Lesung aus seinem Buch »Abendlicht« mit Jugendlichen, 1980 in der Stadtbibliothek in Ostberlin
Stephan Hermlin diskutiert nach einer Lesung aus seinem Buch »Abendlicht« mit Jugendlichen, 1980 in der Stadtbibliothek in Ostberlin

Die Überschrift eines Artikels von Hans-Dieter Schütt zum 25. Todestag von Stephan Hermlin lautete: »Der in Scherben Gebadete«, erschienen am 6. April in dieser Zeitung. Allen ahnungslosen Spätgeborenen sei gesagt, dieser Dichter war einmal eine Instanz im deutschsprachigen Literaturbetrieb. Sein Platz in der Kulturgeschichte der DDR soll ihm auch nicht bestritten werden: Im November 1976 war es eben jener Stephan Hermlin, der elf namhafte Schriftsteller um sich scharte, darunter Christa und Gerhard Wolf, Jurek Becker, Volker Braun und Sarah Kirsch, Stefan Heym und Heiner Müller, und sie dazu bewegte, mit einer von ihm vorformulierten Protestresolution gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aufzubegehren.

Nie wieder waren Dichter im deutschen Sprachraum so gefährlich, nie wieder haben Literaten eine Regierung derart in Bedrängnis gebracht. Unvergessen auch Hermlins Auftritt vor dem DDR-Schriftstellerkongress anno 1979, als Stefan Heym und andere unliebsame Autoren ausgeschlossen wurden. Hermlin beschloss seinen Redebeitrag mit einem Grillparzer-Zitat: »Will unsere Zeit mich bestreiten,/ ich lasse es ruhig geschehn/ Ich komme aus anderen Zeiten/ Und hoffe in andere zu gehen«. Hermlin war ein kluger Mann, belesen und weltgewandt; sprach fließend Englisch und Französisch, das in einem Staat, in dem es vor allem auf die Russischkenntnisse ankam. Im selben Jahr sorgte Hermlin mit dem schmalen Band »Abendlicht« für Aufsehen und Gesprächsstoff. Wäre die Deutsche Demokratische Republik eine Gesellschaft gewesen mit freien Diskursen, hätte Hermlin mit »Abendlicht« einen solchen losgetreten, hatte er darin doch ein anderes Büchlein etwas gründlicher gelesen als die SED-Schriftgelehrten – das berühmte »Manifest der Kommunistischen Partei« von Karl Marx und Friedrich Engels.

Und tatsächlich, die beiden Begründer des dialektisch-historischen Materialismus hatten von der Zukunft geschrieben, dass an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassen-Gegensätzen eine Association treten werde, »worin die freie Entwicklung eines Jeden, die Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist«. Eine Aussage, die in etwa das Gegenteil von dem darstellte, was das Politbüro in der DDR propagieren ließ. Das besagte Manifest war nicht irgendein Text. Im vorgeblich ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden galt sein Wortlaut als Heilige Schrift. Im »Kommunistischen Manifest«, wie es verkürzt genannt wurde, hatte sich der Geist der Geschichte resp. der gesetzmäßigen Entwicklung der Geschichte hin zum Kommunismus offenbart. Und jetzt das! Die Freiheit des Einzelnen sollte, nach Marx und Engels, die Bedingung sein für die Freiheit aller! Nicht umgekehrt.

In der SED hatte Hermlin das Zeug zum Häretiker. Wie schon der spanische Reformkommunist Santiago Carrillo sagte: »Die Zukunft hat immer den Ketzern gehört!« Hermlin aber musste sich für seine Thesen nie vor der Glaubenskongregation verantworten; die Wende kam und sein Mut geriet in Vergessenheit. Und weder »Faz« noch »Süddeutsche Zeitung«, »Zeit« oder »Spiegel« erinnerten zum 25. Todestag an Stephan Hermlin. Auch dass die Literaturhäuser zu seinem Gedenken Lesungen, etwa aus seinen Gedichten, veranstaltet hätten, ist dem Autor nicht bekannt. Nicht einmal Hermlins Verlag Wagenbach erinnerte seiner.

Dabei hatte dieser Mann auf das Schaffen so vieler Dichter und Dichterinnen in der DDR einen enormen Einfluss. Die »Revolte der Lyrik«, wie der Historiker Gerd Dietrich die damalige Lyrikwelle in den Jahren nach dem Mauerbau nennt, ist vor allem mit dem Namen Stephan Hermlin verbunden. Der einstmals legendäre Lyrikabend am 11. Dezember 1962 in der Ostberliner Akademie der Künste geht auf seine Initiative zurück. Als Sekretär der Sektion Dichtung und Sprachpflege hatte Hermlin dazu aufgerufen, neue Verse einzusenden. Die Resonanz auf seinen Aufruf war überwältigend. 144 Einsender schickten insgesamt 1250 Gedichte; hundert davon suchte Hermlin für die Veranstaltung aus. Ein Abend, der mit seinen Gedichten Geschichte schrieb: Volker Braun, Sarah und Rainer Kirsch trugen ihre Gedichte vor, ebenso Karl Mickel und B.K. Tragelehn. Nicht zu vergessen, der noch unbekannte Wolf Biermann mit seinem Gedicht »An die alten Genossen«, in dem es hieß: »Setzt eurem Werk ein gutes Ende / indem ihr uns /Den neuen Anfang lasst!«. Was für ein Eklat!

Den neuen Anfang bekam Hermlin. Er verlor seine Anstellung in der Akademie; wohingegen Biermann erst drei Jahre später, im Vorfeld des Kahlschlagplenums, des 11. Plenums des ZK der SED 1965, zum Außenseiter des DDR-Kulturbetriebs avancierte. Vielleicht ist in dem kleinen Land nie wieder mit so viel Leidenschaft über Poesie gestritten worden wie an diesem Abend im Dezember 1962. Nie wieder waren Gedichte so wichtig! Aus dem Publikum heraus war die Frage gestellt worden, warum solche Verse nicht in den Zeitungen der DDR zu lesen seien? Worauf Biermann kommentierte: »Es ist natürlich schwer, Maßstäbe für Lyrik zu finden, wenn man ständig das ›Neue Deutschland‹ liest. Was dort an Lyrik veröffentlicht wird, das kann einen nur zum Erbrechen bringen.«

Erstaunlich aus heutiger Sicht, dass im »ND« Gedichte gedruckt wurden. Die Reaktion des Zentralorgans auf Biermanns Schmähung wäre einen eigenen Artikel wert. Willi Köhler, seinerzeit »ND«-Kultur-Ressortchef, hat sich das natürlich nicht bieten lassen, meinte eine gegen seine Zeitung »gelenkte Atmosphäre« erlebt zu haben. – Im Dezember 1962 waren Gedichte noch gefährlich. Und so mancher Vers zeugte von Geschmack. Der Brechtschüler B.K. Tragelehn zum Beispiel hatte eine »Ode an zwei Brötchen« eingeschickt: »Sättigende! Billige! Fünf Pfennig das Stück. / Ihr vom Erlös der leeren Milchflaschen / Erschwinglichen! Ihr / In der rauen Zeit vor Honorarempfang / Treuen! Braune, knusprige, innen / weiche und weiße!«

Lange her. Noch viele Jahre schwärmte Volker Braun von jenem Lyrikabend in der Akademie: »Die bloße Lesung angehäuften unveröffentlichten Zeugs, darunter einige gute Gedichte, wurde zur Sensation, zur skandalösen Störung der Kulturpolitik.« – Eine Störung, die heute nahezu in Vergessenheit geraten ist. Es erstaunt, dass heute niemand mehr an diesen Abend erinnern mag, auch nicht in der nunmehr gesamtdeutschen Akademie der Künste. Mit Volker Braun und B. K. Tragelehn, zwei der jungen Talente von damals, hätte man sicher eine Veranstaltung auf die Beine stellen können und der Frage nachgehen, ob Literatur immer noch eine solche Begeisterung, aber auch Unruhe hervorrufen kann. Überhaupt: Was ist von der DDR geblieben?

Doch wer an den Lyrikabend in der Akademie erinnert, der muss auch an Stephan Hermlin erinnern, einem wichtigen Vermittler von Kunst und Literatur in der DDR. Hermlin war ein einflussreicher Intellektueller. Aber war er auch ein bedeutender Schriftsteller?

Es gibt eine Heiner-Müller-Gesellschaft, die sich um das Werk des toten Dichters kümmert, eine Christa-Wolf-Gesellschaft, eine Wolfgang-Hilbig-Gesellschaft. Aber es gibt keine Stephan-Hermlin-Gesellschaft. In der jüngeren Literaturwissenschaft gibt es kein Forschungsprojekt, das sich mit dem Werk Hermlins ästhetisch auseinandersetzt. Dabei genoss dieser Autor auch im westdeutschen Feuilleton größte Anerkennung. Und das ungeachtet solcher Sätze wie: »Ein glorreicher Sommer wölbte sich über dem Haus«, »der Tag wölbte sich höher (…) fern lehnte ein Hirte an seinem Stab neben den Lärchen.« Und nicht zu vergessen: »der Sommer wölbte sich von neuem grün und golden über den Gesprächen unserer Freunde« – das sind Zitate aus dem bereits erwähnten »Abendlicht«.

Das Buch hat 140 Seiten, es ist Hermlins einzige längere literarische Arbeit. Der Erzähler erinnert sich seiner Kindheit im großbürgerlich-jüdischen Milieu, mit Kindermädchen, Erzieherin, Reitpferden, Kutscher und einem Flügel, an dem der Vater die f-Moll-Fantasie von Schubert spielte. Und bald schon findet das Ich in den Wirren der Zeit den Weg zur Partei der Arbeiterklasse. »Ich war nicht besser und nicht schlechter als die Bewegung, der ich angehörte …«, schreibt Hermlin in diesem Text, der seinerzeit als Autobiografie gelesen wurde. Eine solche Vita hatte kein anderer Dichter vorzuweisen: Als Rudolf Leder 1915 in eine reiche jüdische Familie hineingeboren, nahm er am kommunistischen Widerstand gegen Hitler teil, kämpfte im Spanischen Bürgerkrieg und war dann auch noch Mitglied der französischen Resistance. Irgendwann soll er auch ins KZ Sachsenhausen gekommen sein, wo sein Vater gestorben sei.

Im Oktober 1996 dann der Skandal! Der Literaturkritiker Karl Corino veröffentlichte in der Wochenzeitung »Die Zeit« ein Dossier über die Legenden Hermlins. Ja, er war in der Nazizeit Jude, Jungkommunist und Emigrant. Er wollte aber auch als Spanienkämpfer und Resistance-Kämpfer Anerkennung, was er nicht war. Corino wurde daraufhin Antikommunismus und westdeutsche Arroganz vorgeworfen. Iris Radisch sprang ihm bei: »Es gibt keine Menschenpflicht zur Wahrheit. Aber es gibt ein Menschenrecht, den Süßholzrasplern zu misstrauen.« Vielleicht wäre das ja ein Thema für einen Hermlin-Abend in der Akademie, in Anlehnung an das berühmte Diktum von Platon: Wie viel darf ein Schriftsteller lügen?

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