Gibt es einen Trend zur Frührente?

Menschen in Deutschland gehen immer häufiger früh in Rente – diese Meldung machte diese Woche die Runde. Wir haben uns die Daten genauer angeschaut.

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 5 Min.

ARD und ZDF, Nachrichtenagenturen und Zeitungen – alle haben in den vergangenen Tagen darüber berichtet, dass immer mehr Menschen in Deutschland früh in Rente gehen. Schaut man sich die Statistiken an, entdeckt man indes ganz andere Trends.

»Renteneintritt der Babyboomer: Für viele ist schon mit 63 Schluss« – unter diesem Titel veröffentlichte das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BIB) am vergangenen Samstag eine Pressemitteilung. »Aktuell scheiden viele bereits mit 63 oder 64 Jahren aus dem Arbeitsmarkt aus«, heißt es darin. Eine wichtige Rolle spiele hierbei die sogenannte Rente mit 63, nach der langjährig Versicherte abschlagsfrei vorzeitig in den Ruhestand wechseln können. Zudem gingen »vermehrt« Personen mit Abschlägen früher in Rente.

Die Nachrichtenagentur dpa, die viele Zeitungen, TV- und Radiosender als Informationsquelle nutzen, interpretierte dies als Trend und titelte: »Menschen in Deutschland gehen immer häufiger früh in Rente.« So oder so ähnlich wurde die Nachricht auch von anderen Medien verbreitet.

Schaut man sich die Daten der Rentenversicherung an, zeigt sich: Tatsächlich sind die Menschen im vorigen Jahr im Durchschnitt mit rund 64 Jahren in Altersrente gegangen, daran hat sich seit 2013 kaum etwas geändert. In den Jahren davor sind die Leute jedoch noch früher in den Ruhestand gewechselt! So lag das Durchschnittsalter um die Jahrtausendwende bei 62 Jahren. Das Renteneintrittsalter ist also nicht gesunken, sondern seither um rund zwei Jahre gestiegen.

»Von einem Trend zum frühen Ausstieg aus dem Erwerbsleben kann keine Rede sein«, sagt denn auch der Rentenforscher Johannes Geyer vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). »Es gibt insgesamt mehr Menschen, die in Rente gehen. Aber einen Trend zur Frührente gibt es nicht, das ist Unsinn«, betont auch der Sozialwissenschaftler Gerhard Bäcker von der Uni Duisburg-Essen.

Wie viele vorzeitig in Ruhestand gehen

Die Daten zeigen auch, dass sehr viele Menschen vorzeitig in Ruhestand gehen, ihr Anteil steigt aber nicht. Gerade die »Rente mit 63« ist beliebt. Diese Regelung von 2014 ermöglicht es Menschen, nach 45 Versicherungsjahren eine abschlagsfreie Rente zu beziehen. Das Alter, ab dem dies möglich ist, steigt kontinuierlich an und liegt derzeit bei 64 Jahren, erläutert Bäcker. Im vorigen Jahr haben 31 Prozent der Personen, die in Altersrente gewechselt sind, diesen Weg genutzt – und damit exakt so viele wie in den Vorjahren.

Zahlreiche Menschen nehmen auch Abschläge in Kauf, um früher in den Ruhestand wechseln zu können: 2021 galt dies für fast 25 Prozent aller Neurentner – das waren etwas mehr als ein Jahr zuvor. Das kann man viel finden – früher war der Anteil aber deutlich höher: 2007 bis 2011 waren es über 45 Prozent.

Unterm Strich heißt das: Etwas mehr als 40 Prozent wechseln erst dann in die Altersrente, wenn sie das gesetzliche Rentenalter erreicht haben, das derzeit bei 66 Jahren liegt. »Dieser Anteil ist seit vielen Jahren relativ konstant«, betont Geyer. Die absolute Zahl dieser »Spätrentner« ist in jüngster Zeit tendenziell gestiegen, ebenso wie die Zahl der Frührentner.

Gleichzeitig müssen oder wollen mehr ältere Menschen erwerbstätig sein, sei es als Minijobber oder regulär Beschäftigte. Wenn man einen starken Trend sucht, dann wird man hier fündig. Denn die Erwerbstätigkeit von älteren Personen ist stark gestiegen (siehe Grafik). Ein Beispiel: Nach der Jahrtausendwende waren gerade einmal neun Prozent der 63-jährigen Frauen erwerbstätig, im vorigen Jahr waren es dann fast 50 Prozent. In der Pandemie ging die Erwerbsquote teils etwas zurück, insgesamt schwächt sich der Trend jedenfalls seit einiger Zeit ab. »Das war erwartbar«, betont Geyer. »Es gab einen enormen Zuwachs. Dass sich der nicht fortsetzt, bis 100 Prozent der älteren Menschen erwerbstätig sind, war klar.«

Dass ältere Männer und Frauen öfter und länger arbeiten, ist übrigens auch ein Grund dafür, dass die Zahl der Beschäftigten in Deutschland in den vergangenen Jahren gestiegen ist, trotz des demografischen Wandels.

Bleibt festzuhalten: Die Menschen gehen heute im Schnitt später in Rente als zur Jahrtausendwende, Ältere sind viel öfter erwerbstätig. Schlagzeilen machte diese Woche jedoch die frühe Rente.

Die politische Debatte...

Kurz nach Veröffentlichung der BIB-Mitteilung wurde am Sonntag ein Zitat von Kanzler Olaf Scholz verbreitet: »Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können. Das fällt vielen heute schwer«, sagte er in einem Interview. Was folgte, war eine Diskussion über längeres Arbeiten. »Es darf keinen Trend zur Frühverrentung geben«, sagte etwa Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger, auch CDU-Vizechef Carsten Linnemann kritisierte die »Rente mit 63«.

In der politischen Debatte wird dabei meist unterstellt: Es ist gut, wenn Menschen länger arbeiten. Früher in Rente zu gehen, gilt oft nur dann als akzeptabel, wenn es gar nicht anders geht. »Eine Pflegekraft oder ein Dachdecker wird nicht bis 67 arbeiten können«, sagte etwa Linnemann dem »Tagesspiegel«. »Aber wer noch fit ist und noch kann, der wird in Zukunft länger arbeiten müssen.«

... und was Beschäftigte wollen

Früher in Ruhestand zu wechseln, einfach nur, weil man es will, ist demnach nicht in Ordnung. Dabei tun dies viele Menschen, besonders leicht ist es für diejenigen, die es sich finanziell problemlos leisten können. Und: Eine überwältigende Mehrheit möchte nicht bis zur Regelaltersgrenze erwerbstätig sein: »Selbst unter den Beschäftigten mit guter Gesundheit und guter Arbeitsfähigkeit wollen nur zwölf Prozent bis zum Rentenalter arbeiten«, heißt es in einer aktuellen Mitteilung des Lehrstuhls für Arbeitswissenschaft an der Uni Wuppertal. Das zeigten Befragungen von älteren Erwerbstätigen aus den »Babyboomer«-Jahrgängen. Ein Hauptgrund, warum viele früher aussteigen wollen, sei der Wunsch nach Selbstbestimmung. So hätten viele Befragte gesagt, sie wollten mehr freie Zeit.

Dabei kann sich ein Großteil vorstellen, unter bestimmten Bedingungen auch länger zu arbeiten: Wenn die Arbeit nicht zu anstrengend und gut bezahlt wäre, wenn sie frei bestimmen könnten, wie viel und wann sie arbeiten. Auch darin zeigt sich das Bedürfnis nach mehr Selbstbestimmung, das nicht nur »Babyboomer« haben, in der politischen Debatte aber kaum eine Rolle spielt.

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