nd-aktuell.de / 20.12.2022 / Kommentare / Seite 1

Haltloser Vergleich

Georg Fülberth über den Grundlagenvertrag zwischen DDR und Bundesrepublik

Georg Fülberth

Als am 21. Dezember 1972 der Grundlagenvertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR geschlossen wurde, sahen einige Leute den Untergang des Abendlandes gekommen. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums freute man sich über einen Etappensieg auf dem Weg zur dauerhaften Selbstbehauptung des staatlich verfassten Sozialismus. 1989 zeigte sich, dass sich beide getäuscht hatten. Ihren Irrtümern lag jeweils eine Verkennung langfristiger Tendenzen und ihrer ökonomischen Voraussetzungen zugrunde.

Man sah nur das aktuelle militärische Kräfteverhältnis, nämlich das seit Ende der 50er Jahre bestehende atomare Patt. An diesem war Konrad Adenauers »Politik der Stärke« – Überrüstung der Sowjetunion und deren Hinausdrängung aus Mitteleuropa – gescheitert. Der SPD-Politiker Egon Bahr setzte ab 1963 stattdessen auf Wandel durch Annäherung: vorläufige Anerkennung bestehender Tatsachen und auf dieser Basis Einflussnahme auf die jeweils andere Seite – aus der Sicht des Westens der Bundesrepublik auf die DDR.

Auf diese Idee konnte man kommen, wenn man von der Überlegenheit des Kapitalismus über den Sozialismus überzeugt war, nicht unbedingt militärisch, aber wirtschaftlich und durch die daraus resultierende Anziehungskraft der Lebensumstände in der Bundesrepublik auf die Bevölkerung der DDR. Dass ab Ende der siebziger Jahre die USA im Mittelstreckenbereich das atomare Patt überwunden hatten, hätte allein wohl nicht ausgereicht, die UdSSR zur Kapitulation zu bringen. Die Rechnung ging auf – beim Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus erwies sich der Umweg über den Status quo als praktikable Variante.

So weit, so gut oder schlecht. Es fragt sich, was diese historischen Reminiszenzen noch für die Gegenwart taugen. Einige werden dabei an die Lage in der Ukraine denken.

Russland ist es nicht gelungen, das Land zu erobern. Seine Armee steckt fest. Der Ukraine wird es nur gelingen, sie aus den seit dem 24. Februar 2022 besetzten Gebieten und überdies der Krim hinauszuwerfen, wenn die USA ihr Waffen liefern, die noch wirksamer sind als diejenigen, die sie ihr bisher zur Verfügung gestellt haben. So könnte sich eine Demarkationslinie ergeben, durch deren vorläufige Hinnahme auf längere Sicht weit mehr erreicht werden mag.

Immerhin wird der Ukraine im Westen ja viel zugetraut. Sie sei ein rohstoffreiches Land mit einer gut ausgebildeten Bevölkerung. Selbst wenn sie nicht Mitglied der NATO und der EU werde, gleichzeitig aber Verteidigungsgarantien durch die USA und deren Verbündete erhielte und von diesen ebenso massiv bei ihrem wirtschaftlichen Wiederaufbau unterstützt würde wie einst die westdeutschen Besatzungszonen durch den Marshall-Plan, könne sie zu einem Magneten für die Menschen im unter der russischen Militärgewalt bleibenden Teil Osteuropas werden. Das müsste ähnliche geopolitische Konsequenzen haben wie 1990 die Wiedervereinigung Deutschlands

Vorläufig hinkt dieser Vergleich in zwei Punkten.

Erstens: Anders als Bundesrepublik und die DDR 1972 sind die aktuellen Konfliktparteien nicht bereit, einen aktuell denkbaren Status quo als zunächst einmal unvermeidlich anzusehen. Beide beharren auf ihren Maximalzielen – hier Sturz der Kiewer Regierung und Besetzung des ganzen Landes, dort Wiedererlangung der vollen territorialen Integrität der Ukraine einschließlich der Krim.

Zweitens: Der Kalte Krieg blieb kalt, der Ukraine-Krieg ist heiß, mit mittlerweile schon Hunderttausenden von Toten, Verstümmelten, Hungernden, Frierenden und zur Flucht Gezwungenen.

Forderungen aus der Friedensbewegung nach sofortigem Waffenstillstand und Verhandlungen sind angesichts dessen einerseits dringend, haben andererseits noch keine dazu bereiten Adressaten. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hält Kreuzzugspredigten.

Bei Kanzler Olaf Scholz bemerkt man immer wieder ein kurzes Zögern, bevor er sich dann doch wieder dazu hergibt, von CDU/CSU, FDP und Grünen am Nasenring durch die Manege gezogen zu werden. Diese leichte Spur der Eigenständigkeit verdankt sich vielleicht einem Bestand an Restvernunft aus dem Erbe von Egon Bahr.