Verleumdeter Widerstand

Vor 80 Jahren wurden elf Mitglieder der »Roten Kapelle« ermordet

Späte Gerechtigkeit: Einweihung eines Denkmals in Lichtenberg für die Mitglieder der »Roten Kapelle« im Jahr 2011
Späte Gerechtigkeit: Einweihung eines Denkmals in Lichtenberg für die Mitglieder der »Roten Kapelle« im Jahr 2011

»Hoch- und Landesverrat« lauteten die Urteile. Das Strafmaß: Todesstrafe. Am Donnerstag vor 80 Jahren ermordete das NS-Regime die ersten elf Mitglieder der »Roten Kapelle«. Am 22. Dezember 1942 wurden fünf Männer erhängt, darunter Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, und im Anschluss sechs weitere Widerstandskämper*innen wie Hans Coppi und Libertas Schulze-Boysen enthauptet. Weitere Hinrichtungen sollten folgen. Mindestens 45 Menschen, Mitglieder der »Roten Kapelle«, brachte das NS-Regime um.

Es war eines der größten Widerstandsnetzwerke in Deutschland. Es nannte sich nicht selbst »Rote Kapelle«. Das war eine Bezeichnung durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo). Künstlerinnen und Studenten, Arbeiter und Wissenschaftlerinnen hatten sich in kleinen Gruppen zusammengeschlossen, die wiederum in losem Austausch standen – ein Gefüge, das allein für Berlin auf rund 150 Personen geschätzt wird und auch in Belgien und Frankreich Kontakte hatte. Sie versteckten Verfolgte, verbreiteten Flugblätter in ihren Betrieben und auf der Straße, sammelten Informationen, um der Welt die Schrecken der NS-Dikatur zu zeigen, und unterstützten sich gegenseitig. Ab 1933 leistete die »Rote Kapelle« fast ein Jahrzehnt Widerstand.

Doch in der Bundesrepublik galten die Widerstandskämper*innen lange als »Vaterlandsverräter«. Die Urteile von 1942 und 1943, die aus der »Roten Kapelle« einen sowjetischen Spionagering machten, blieben bis 2009 bestehen. Der Nazi-Richter Manfred Roeder, verantwortlich für die Todesurteile, verbreitete bis in die 60er Jahre mit Büchern und Vorträgen Lügen über seine Opfer. Das erzählt die Zeithistorikerin Trille Schünke, die sich als Vorständin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Berlin (VVN-BdA) für die Erinnerung an den NS-Widerstand einsetzt. »Im Geschichtsunterricht fand die Rote Kapelle lange gar nicht statt«, so Schünke. Und auch heute läge der Fokus meist auf der »Weißen Rose« oder Stauffenberg.

Dabei war die »Rote Kapelle« in vielen Aspekten eine besondere Widerstandsgruppe. »Es waren überdurchschnittlich viele Frauen aktiv, über ein Drittel«, so Schünke zu »nd«. »Und viele Widerstandstätigkeiten konnten nur durchgeführt werden, weil Frauen dabei waren.« Schünke erwähnt etwa eine Klebezettelaktion, bei der Hetero-Paare gemeinsam die Zettel anbrachten: »Das war am unauffälligsten«, sagt sie. Dazu kam die religiöse und politische Vielfalt der Unterstützer*innen. »Egal, welchen Hintergrund die Personen hatten, ob christlich oder jüdisch, kommunistisch, sozialdemokratisch – sie teilten alle dasselbe Ziel.«

Eine Vielfalt, die nicht nur in der BRD lange Zeit ausgespart blieb. In der DDR gedachte man zwar des Netzwerks, allerdings hauptsächlich der kommunistischen Männer. Das sehe man auch an Straßenbenennnungen, so Schünke. Als in den 70er Jahren das Neubaugebiet Frankfurter Allee Süd in Lichtenberg entstand, widmete man den Kiez dem Gedenken an die Schulze-Boysen-Harnack-Organisation – aber eben nur den ideologisch passenden Mitgliedern.

Erika Rathmann sieht sich persönlich in der Verantwortung, die Erinnerung an die »Rote Kapelle« am Leben zu halten. Ihre Mutter Anna Rathmann und ihre Tante Gertrud Rosemeyer waren im Umfeld der Widerstandsgruppe aktiv. Als KPD-Mitglieder hatten sie sich schon vor 1933 gegen die Nazis eingesetzt. Unter der NS-Diktatur halfen sie beispielsweise dem jüdischen Freund einer Freundin, sich zu verstecken, und waren mit anderen Widerständischen in Kontakt. »Dass das gefährlich war, wusste ich schon als Kind«, erzählt die heute 86-Jährige »nd«. Einmal sei die Gestapo in die Wohnung gekommen. »Ich weiß noch, wie meine Mutter erschrak und eine Gestapo-Beamtin zu mir sagte: ›Aber, aber, ein deutsches Mädchen weint doch nicht.‹« Ihre Mutter wurde verhaftet, kam aber nach ein paar Monaten wieder frei.

»Wenige können sich vorstellen, was diese Zeit bedeutet hat«, sagt Rathmann. Doch gerade in der heutigen Zeit hält sie es für wichtig, die Erinnerung wachzuhalten. Sie erwähnt die bundesweite Razzia gegen die Gruppe rechtsextremer Reichsbürger*innen, die einen Umsturz plante. »Manche denken, das ist nur ein Witz, aber wir müssen die rechtsextremen Neigungen in der Bevölkerung ernst nehmen.« Sie und Trille Schünke werden bei der Gedenkkundgebung am Donnerstagnachmittag auf dem Platz der Roten Kapelle in Lichtenberg sprechen.

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